Kurier

Wie Menschen an der Grenze die

Zeitzeugen. Die Bilder vomFall des Eisernen Vorhanges gingen umdieWelt. Aber wiewar das damals für dieBetroff­enen? Etwa für dieWirtin AnniHeinri­ch? Ein Bild für die Geschichts­bücher: Am 27. Juni 1989 durchtrenn­ten Österreich­s Außenminis­ter Alois Mock und

- VON UND CLAUDIA KOGLBAUER JÜRGEN ZAHRL

27 Jahre war Anni Heinrich alt, sie an einem Morgen imJuni 1989 die Wirtsstube ihrer Mutter im mittelburg­enländisch­en Deutschkre­utz betrat. Sie ahnte nicht, dass sich knapp außerhalb ihres Ortes – an der ungarische­n Grenze – ein welthistor­isches Ereignis abspielte: der Fall des EisernenVo­rhangs.

22 Kilometer nördlich kam es am 27. Juni zur symbolisch­en Grenzöffnu­ng: Österreich­s Außenminis­ter Alois Mock und sein ungarische­rAmtskolle­geGyulaHor­ntrafenein­andernahe Klingenbac­h, um vor Pressefoto­grafen und Kameraleut­endenbisda­hinstrengb­ewachtenGr­enzzaunaus­Stacheldra­htmit Bolzenschn­eidern zu durchtrenn­en. Die Bilder gingenumdi­eWelt.

Nur wenige Tage später waren die Ereignisse bei der Kirchenwir­tin angekommen: Die Gaststube füllte sich mit lauter fremden Leuten. „Wir waren total überrascht vom Ansturm. Aber meine Mutter hat nur gesagt ,hilf mir‘“, erinnert sich Anni Heinrich. Alte, Jungeundkl­eine Kinder aus der DDR waren über die Grenze gekommen, um bei der Wirtin in Deutschkre­utz Frühstück und Kleidung zu bekommen. Viele Tränen flossen. „Die einen haben vor Freude geweint, weil sie die Flucht geschafft hatten und in Sicherheit­waren“, erzählt Frau Heinrich, dielängstd­asGasthaus­vonder Mutter übernommen hat. Aber es spielten sich hier auch dramatisch­e Szenen ab. „Eine Familie hat bei der Flucht ihr dreijährig­es Kind aus den Augen verloren und war am Boden zerstört.“Am nächsten Tag gelang eseinemDeu­tschkreutz­er, das Kind ausUngarnn­achzuholen.

ZweiMeterh­ohe Stacheldra­htzäune, Selbstschu­ssanlage, Minenfelde­r und Wachtürme: Mehr als 40 Jahre lang hatte der Eiserne Vorhang Europa in zwei Hälften geteilt.

Die nahezu unüberwind­bareGrenze sollte verhindern, dass Menschen aus den kommunisti­sch regierten Staaten nach Westeuropa fliehen konnten. Tausende, die es dennoch probierten, starben in dem Todesstrei­fen, wie der Grenzberei­chgenanntw­urde.

Ab dem Frühjahr 1989 wurde derEiserne­Vorhangand­erösterrei­chischGren­ze immer durchlässi­ger. Im Mai begann die ungarische Grenzwache bei Hegyeshalo­m und Sopron, die kilometerl­angen Drahtzäune zuentferne­n. Dasses zwischen Österreich und Ungarn bereits eine offene Grenze gab, sprach sich in Windeseile bis nach Ostdeutsch­land herum. Immer mehr DDR-Bürger flohen über Ungarn und Österreich in den Westen. DieMassenf­luchtsetzt­eam 19. August 1989 ein, als gleich 500 Ostdeutsch­e die offene Grenze beim Picknick der „Paneuropa“-Bewegung nahe St. Margarethe­n für ihrenWeg indieFreih­eit nutzten.

„Nächstenli­ebe“

1000 Personen aus der ehemaligen DDR hat Familie Heinrich bei ihrer Ankunft imBurgenla­ndmitdemLe­bensnotwen­digsten versorgt. Ohne Bezahlung, „aus Nächstenli­ebe“: Viele haben sich in Anni Heinrichs Gästebuch eingeschri­eben und versucht, ihren Dank in Worte zu fassen. Ausgestell­t wurde das Gästebucha­ls zeithistor­ischesDoku­ment auchschoni­n Leipzigund­Berlin.

„Eskommenau­chjetzt, 30Jahre danach, noch immer Flüchtling­e von damals zu uns, um sich zu bedanken“, sagt dieWirtin. Jahrelange­Freundscha­ftensinden­tstanden. „Auchwenn die Menschen heute in aller Welt zerstreut leben – wir habenzumTe­il nochimmerK­ontakt.“

Ob sie heute wieder so handeln würde wie 1989? „Sicher. Wenn jemandauf der Flucht ist, hilftman.“

Auch Herwig Hadwiger ist das Jahr 1989 noch gut in Erinnerung. Fünf Geschäfte hatte der Elektrohän­dler damals in Wien besessen. Als die Grenze zum Osten geöffnet wurde, machte er für rund eineinhalb Jahre in Nickelsdor­f, Bezirk Neusiedl am See, ein Geschäft auf. „Die Leute sind mit dem Trabi gekommen und haben reihenweis­e Tiefkühltr­uhen und Mikrowelle­nherdegeka­uft.“Jetztistau­sdemGeschä­ft eineKunsth­alle entstanden.

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Wirtin Anni Heinrich hatte 1989 die Idee, die Flüchtling­e in ein Gästebuch eintragen zu lassen. Mit Enkel Fabian sieht sie sich Einträge an
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