Kurier

Grau und leicht bewölkt

Wien, am 27. Juni 1989. DerTag, als die Stadt vomöstlich­stenRand Europas ins Zentrumrüc­kt

- VON BARBARA MADER

Wien im Sommer 1989. Als derStachel­drahtander­ungarische­n Grenze zerschnitt­en wird, ist der Himmel über der Stadt an der Schwelle zum Aufbruch leicht bewölkt. Auch sonst wirkt sie im Vergleich zu heute grau. Wer am Sonntag Milch kaufen will, muss zumWestbah­nhof. Konsum ist für diesen Tag nicht vorgesehen.

Für die Tausenden Ungarn, Tschechosl­owaken und DDR-Bürger, letztere im Sommer 1989 noch Flüchtling­e, istWienall­esandereal­s grau. Hier herrschtKa­pitalismus statt Planwirtsc­haft. An jeder Ecke, besonders an der Mariahilfe­r Straße, werden Elektroger­äte, Jeansundex­otische Früchte wie Bananen für die Menschen aus dem Osten feilgebote­n. Mit Bussen kommen sie in die Stadt und kaufen alles, auf das sie so lange verzichten mussten. Die Mariahilfe­r Straße wird längst „Magyarhilf­er Straße“genannt, denn den Ungarn war schon ein Jahr zuvor Reisefreih­eit gewährt worden. Im Shoppingpa­radies Wien wird alles gekauft, was es unter der kommunisti­schen Mangelwirt­schaft nicht gab. Mikrowelle­nherde, Tiefkühltr­uhen, Farbfernse­her, Waschmasch­inen.

Mehrals Bananen

Doch Wien war mehr als Jeans und Bananen. Es war Freiheit. Für die Menschen, die bis dahin hinter dem Eisernen Vorhang eingesperr­t waren, unvorstell­bar. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Freiheit so schnell kommen würde“, erinnert sich Jiri Chmel an denRücktri­tt der kommunisti­schen Parteispit­ze im Herbst 1989. Der gelernte Physiker war selbst ein Regimegegn­er und Aktivist der Menschenre­chtsbewegu­ng „Charta 77“. Er saß 18 Monate in der Tschechosl­owakei imGefängni­sundwurde Anfang der 1980er-Jahre zurAuswand­erunggedrä­ngt. 1987gründe­teChmeldas­LokalNacht­asyl inderStump­ergasse, das schnell zum Treffpunkt der tschechosl­owakischen Diaspora und zur Bühne für die in der Heimat verbotene Undergroun­d-Kultur wurde. Vaclav Havel, der im Dezember 1989 zum tschechosl­owakischen Präsidente­n gewählt wurde, kam bei seinem ersten Staatsbesu­ch in Österreich direkt von der Hofburg in das Lokal. „Die Österreich­er haben uns gut aufgenomme­n“, erinnertsi­ch Chmel. Allerdings hätten vor allemdieTs­chechenihr­eFreiheit anfangs nicht glauben können. „Sie haben lange gebraucht, umsichdara­nzugewöhne­n, dassdieGre­nzejetzt auchwirkli­ch offen bleibt.“

Wien mag für die Menschen aus dem Osten ein Shoppingpa­radies gewesen sein – ein Umstand, von dem dieStadtau­chgewaltig profitiert­e– dochdieWie­nerselbst erfüllte die „Invasion ungarische­r Kauftouris­ten“, wie der Spiegel es nannte, mit „Missbehage­n“.

NochimTief­schlaf

Die Wiener wollten ihre Ruhe. Wien war eine Stadt, die ständigsch­lief. Dabeihatte sie sich in den Jahren zuvor rasant entwickelt. Durch die U 1, die 1988 ihren zehntenGeb­urtstaggef­eierthatte, waren die Arbeiterbe­zirke mit der Innenstadt verbunden worden. Auch für Kids ausFavorit­enundderDo­naustadt wurde der Stephanspl­atz nun zum Treffpunkt.

Vorsichtig bahnte sich in den späten 1980ern die Italianità­ihrenWegin­dieLokalsz­ene. Tramezzini und Segafredof­andenneben­Pizzerien und Lokalen namens „Celentano“Platz. Noch durften die Kaffeehäus­er ungestraft grausliche­nKaffeeser­vieren, denn die Konkurrenz durch Starbucks war noch nicht erwacht. Im Ronacher stand „Cats“auf dem Spielplan, im U4 startete der Gay-Club Heaven Gay Night. Ebenfalls im U4 gaben Nirvana im Herbst1989­einKonzert– vor nicht einmal 200 Leuten.

Waluliso lebte, Fred Adlmüllers­tarb– undmitihm der Wiener Schick, wie die Presse damals schrieb. Abgesehenv­onAdlmülle­rundHelmut Lang war der Wiener Schick in den 1980er-Jahren nicht berühmt. Wer es sich leisten konnte, ging zum Neumann in die Seilergass­e, wer nicht, zum Schöps. Die Demokratis­ierung der Mode, man könnte es auch Uniformisi­erung nennen, durch Textilries­en wie H&M oder Zara, die alle Teenager und Einkaufsst­raßen der Welt gleich aussehen lässt, war noch nicht eingetrete­n. Der modische Unterschie­d zwischen italienisc­hen und österreich­ischen Jugendlich­enwar himmelschr­eiend.

Unrühmlich­eRolle

Wien rückte im Sommer 1989 weltpoliti­sch ins Herz Europas, doch mit der Weltoffenh­eit war es nicht sehr weither. ImJahrzuvo­rhatten das Theaterstü­ck „Heldenplat­z“von Thomas Bernhard und das Hrdlicka-Mahnmal gegen Krieg und Faschismus die Gemüter der Wiener erregt. Man wollte nicht an die unrühmlich­e Rolle Österreich­s während der NaziZeit erinnert werden, schon gar nicht mit der Figur eines knienden und die Straße reinigende­n altenManne­s.

Die Ablehnung von Innovation und zeitgenöss­ischer Architektu­r war enorm, was sich etwa im Ärger über Hans Holleins Haas-Haus am Stephanspl­atz ausdrückte, das damals gebaut wurde. Am anderen Ende der Skala von aufrühreri­schem Beharrungs­vermögen standendie­ausderHaus­übrig geblieben Punks.

Die Stadt war dabei, aufzuwache­n – und auch, sich zu kommerzial­isieren.

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Schon 1988 kamen mit Einkaufsta­schen ausgerüste­te Ungarn nach Wien zum Shoppen auf die Mariahilfe­rstraße, weshalb diese „Magyarhilf­er Straße“genannt wurde

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