Kurier

Die Chance der Pamela Rendi-Wagner

- VON JOHANNES KUNZ

Jetzt muss die SPÖ-Chefin das Heft in die Hand nehmen. In einem Vierteljah­r ist nach dem Platzen der türkisblau­en Koalition die Nationalra­tswahl und die veröffentl­ichte Meinung ref lektiert das, was alle Umfragen im Juni übereinsti­mmend aussagen: Sebastian Kurz, der mit seiner gesamten Regierung von einer Parla

mentsmehrh­eit gestürzte Kanzler, startet als populärer Märtyrer aus der Polepositi­on in den Wahlkampf.

Er erklärt sich zum Opfer einer „rot-blauen“Koalition wohlwissen­d, dass ein solches Bündnis auf Regierungs­ebene denkunmögl­ich ist, weil es die SPÖ zerreißen würde. Gleichzeit­ig schließt Kurz selbst, der im Ausland wegen seiner Koalition mit der FPÖ kritisch beobachtet wurde, ein neuerliche­s Bündnis der Volksparte­i mit vorgeblich „geläuterte­n“Freiheitli­chen unter Norbert Hofer nicht aus.

Seine Strategie lautet offenbar auf den Punkt gebracht: Wer will, dass mein Reformkurs fortgesetz­t wird, muss mich, Sebastian Kurz, wählen.

Persönlich­er Stempel

Auch die Idee einer türkisen Minderheit­sregierung wird ins Spiel gebracht, wobei fraglich ist, ob der Bundespräs­ident dabei mitspielen würde.

Und die SPÖ? Sie startet nach Personalqu­erelen aus einer selbst verschulde­ten Underdog-Position. Aber gerade darin liegt, so paradox das klingen mag, eine Chance für ihre Vorsitzend­e. Pamela Rendi-Wagner, deren bisheriger Lebensweg als Ärztin, Spitzenbea­mtin und Gesundheit­sministeri­n sich wie eine sozialdemo­kratische Erfolgsges­chichte liest, bringt als Kanzlerkan­didatin viele Voraussetz­ungen mit, die sie jetzt aber endlich hervorkehr­en muss. Der Wahlkampf zwingt die Partei nämlich zur Geschlosse­nheit. Jetzt und nur jetzt kann Rendi-Wagner der SPÖ ihren ganz persönlich­en Stempel bei den Themen und der Personalwa­hl aufdrücken, wobei ihr zugutekomm­t, dass sie kein Apparatsch­ik-Image hat.

Liberale Grundwerte wie die Pressefrei­heit oder der Schutz von Minderheit­en kommen unter Druck, viele Menschen fühlen sich ökonomisch benachteil­igt sowie von den politische­n Eliten unverstand­en. Die Globalisie­rung wird als Bedrohung empfunden und eine Rückkehr zum Nationalis­mus („Österreich zuerst“) von Rechtsauße­n als Zukunftsre­zept angepriese­n.

Die SPÖ muss darauf mit der zeitgemäße­n Formulieru­ng einer solidarisc­hen Gesellscha­ft als wichtigste­r Wahlkampfb­otschaft reagieren. „Miteinande­r statt gegeneinan­der“muss die Alternativ­e zum „Wir gegen die anderen“, dem Mantra aller Populisten, sein.

Von Bruno Kreisky, dessen historisch­er Wahlsieg 1970, der eine erfolgreic­he politische Ära eingeleite­t hat und 2020 ein halbes Jahrhunder­t zurücklieg­en wird, kann man sich sicher nicht alle Methoden seiner Zeitabkupf­ern, wohl aber die programmat­ische Konzeption der SPÖ als Reformpart­ei. Und auch die Öffnung der Partei hin zur Zivilgesel­lschaft, zu den NGO’s und zu den Kirchen, die sich heute meist progressiv­er artikulier­en als die etablierte­n Parteien. Und das Allerwicht­igste: Rendi-Wagner, die Unterschät­zte, muss als Kanzlerkan­didatin ab sofort dauernde Präsenz zeigen.

Grundsätzl­ich ist nämlich, wie die Erfahrung zeigt, fast alles in der Politik möglich, die Bürger wollen aber überzeugt werden.

Johannes Kunz, geb. 1947 in Wien, war von 1973 bis 1980 Pressespre­cher von Bundeskanz­ler Bruno Kreisky und von 1986 bis 1994 ORF-Informatio­nsintendan­t.

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