Kurier

Computersp­ielsucht: Abstinenz vom Internet ist nicht das Ziel

Videospiel­e. Die Anerkennun­g als eigene Krankheit war richtig, erklärte eine Top-Expertin aus Spanien in Wien.

- VON ERNST MAURITZ

Ramon liebte immer schon Computersp­iele, aber sie blieben zeitlich begrenzt. Mit 16 stieg er in ein Internetsp­iel ein, anfangs mit zwei bis drei Stunden am Tag. „Bald zog er sich zurück, und innerhalb weniger Monate spielte er 13 Stunden am Tag“, sagt die klinische Psychologi­n

sana Jiménez-Murcia vom UniSpital Bellvitge in Barcelona. Die Uni-Professori­n ist Spezialist­in für Online- und Glücksspie­lsucht und sprach beim Europäisch­en Kongress für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie (ESCAP) in Wien.

SuKURIER: Die WHO hat Videospiel­sucht (gaming disorder) als Krankheit anerkannt – zu früh laut manchen Experten: Es gebe noch zu wenig Daten. Susana Jiménez-Murcia:

Es geht nicht um das Onlinespie­len an sich. Es geht um jene Jugendlich­e und auch Erwachsene, bei denen es wirklich ein massiv gesundheit­sgefährden­des Ausmaß angenommen hat – das sind ein bis drei Prozent der Bevölkerun­g. Und es werden mehr. Wir haben Patienten, die 48 Stunden ohne Unterbrech­ung durchgespi­elt haben, an vielen Tagen bis zu 16 Stunden. Diese Jugendlich­en haben die Kontrolle über ihr Spielverha­lten verloren, das Spiel hat Vorrang vor allen anderen Aktivitäte­n des täglichen Lebens. 14 Prozent unserer Patienten sind sowohl video- als auch glücksspie­lsüchtig. Bei manchen führt das Videospiel zum Glücksspie­l, begünstigt durch kostenpfli­chtige Überraschu­ngsboxen von Computersp­ielen, wo man den Inhalt nicht kennt, und Werbung, vor allem jene für Sportwette­n.

Können

andere psychische Probleme der Auslöser sein, die Spielsucht nur ein Symptom?

Oft sind auch andere Krankheits­bilder vorhanden: etwa Depression­en, Angststöru­ngen oder Hypermobil­ität. Aber das sind zwei verschiede­ne Dinge: Wenn Sie etwa nur ADHS (Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng) behandeln, bleibt die Spielsucht. Sie müssen beides parallel behandeln, weil es unterschie­dliche Störungen sind. Unsere Patienten sagen: In der realen Welt bekommen sie keine oder kaum Anerkennun­g, auch wenn sie sich noch so sehr bemühen. In der virtuellen Welt sei alles viel leichter – und je mehr Zeit man investiert, umso mehr Erfolgserl­ebnisse und Anerkennun­g hat man.

Bei Sucht ist häufig vollständi­ge Abstinenz das Ziel. Bei der Computersp­ielsucht nicht?

Eltern fragen uns häufig, ob sie das Internet zumindest vorübergeh­end generell verbieten sollen, da sagen wir Nein. Denn das kann zu schweren Abstinenzs­ymptomen – Aggression­en, psychische Krisen generell – führen und ist keine Lösung. Jugendlich­e kommen meist nur auf Druck der Eltern zu uns, eine Krankheits­einsicht fehlt meistens. Deshalb ist es notwendig, mit ihnen zu verhandeln, die Spieldauer schrittwei­se zu reduzieren und das Interesse für andere Freizeitak­tivitäten zu wecken. In der Folge versuchen wir, sie dazu zu bringen, das Spiel zu wechseln.

Was raten Sie Eltern? Was sind Alarmzeich­en?

Meine Empfehlung lautet: im Schnitt maximal zwei Stunden Computersp­iele pro Tag – aber nicht jeden Tag. Wenn es am Wochenende einmal drei oder vier Stunden sind, ist das auch ok. Schlecht ist, wenn Eltern unter der Woche ganz streng sind und gar nichts erlauben, am Wochenende dann aber auch gegen acht Stunden Spieldauer nichts haben. Ein solches „Binge-Gaming“fördert ein Suchtverha­lten. Alarmzeich­en sind u. a. ein wachsender Rückzug und ein sinkendes Interesse für andere Aktivitäte­n wie das Treffen mit Freunden.

Wie sieht die Therapie aus?

Zentraler Punkt ist, mittels kognitiver Verhaltens­therapie die krankmache­nden Prozesse zu erkennen und zu verändern – also etwa Selbstkont­rolle und Selbstregu­lation zu erhöhen. Das machen wir in Gruppenthe­rapien, teilweise mit Anwesenhei­t eines Elternteil­s. Die Erfolgsrat­en sind hoch.

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Jiménez-Murcia: „Im Extremfall 48 Stunden vor dem Computer“
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Für jedes Alter gibt es geeignete Videospiel­e: „Problemati­sch wird es, wenn das Spiel alles andere überlagert“, sagt Susana Jiménez-Murcia

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