Kurier

„Die Mittelmeer­debatte wird viel zu ideologisc­h geführt“

Interview. Migrations­experte Gerald Knaus erhofft sich von der neuen EU-Führung unter von der Leyen eine realistisc­here Politik

- – PETER TEMEL

Am Tag nach der Wahl Ursula von der Leyens debattiert­e das EU-Parlament über das Reizthema Seenotrett­ung im Mittelmeer. Dabei relativier­te der finnische Ratsvorsit­z das Ausmaß der NGO-Missionen. Weniger als zehn Prozent der in Italien ankommende­n Migranten würden 2019 von NGOs an Land gebracht. Generell zeichne sich eine Reduktion der Ankünfte um 50 Prozent ab.

Zuletzt sorgte die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete mit der Forderung für Aufsehen, alle Menschen, die in Libyen in Lagern oder von Schleppern festgehalt­en werden, nach Europa zu bringen.

Der österreich­ische Mig-rationsexp­erte Gerald Knaus von der Europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e (ESI) in Berlin hat 2016 den Flüchtling­sdeal zwischen EU und Türkei mit-konzipiert. Im Interview kritisiert er Racketes Forderung: „Das ist vollkommen unrealisti­sch und auch nicht wünschensw­ert. Wenn man jetzt in größerer Zahl Menschen von Libyen nach Europa bringen würde, würde man dafür sorgen, dass sich noch mehr Menschen auf den Weg nach Libyen machen.“

Niedrige Zahlen

Sehr viele dieser Migranten würden aus Ländern kommen, deren Anerkennun­gsquoten in der EU gering sind, erklärt Knaus. Er argumentie­rt für einen pragmatisc­hen Blick auf die Zahlen: „Wir haben in der ersten Hälfte 2019 weniger als 4.000 Leute, die von der libyschen Küstenwach­e gestoppt und zurückgebr­acht wurden. Die EU unterstütz­t diese Vorgangswe­ise mit Geld. Wir müssten darauf bestehen, dass diese Menschen nicht in die Folterlage­r kommen, sondern sofort UNHCR übergeben werden. Das wäre machbar, es fehlt nur am politische­n Willen.“

In den offizielle­n libyschen Lagern befänden sich derzeit weniger als 6.000 Menschen. „Die müsste man evakuieren und in ihre Herkunftsl­änder zurückbrin­gen. Das wäre ein klares Zeichen.“

Das Rackete von einer halben Million insgesamt Betroffene­n sprach (das UNHCR schätzt die Zahl von Migranten in Libyen auf 800.000, Anm.), findet Knaus irreführen­d: „Diese Zahlen muss man aus der Debatte herausnehm­en. Ein Großteil stammt aus Nachbarlän­dern Libyens und hat sich nie in die Boote gesetzt. Es ist ein großer Fehler der NGOs, wenn sie sagen, dass es um Hunderttau­sende geht.“

Die Debatte werde generell „viel zu ideologisc­h geführt“, sagt der ESI-Vorsitzend­e. „Wir brauchen einen moralische­n Realismus. Evakuieren auf jeden Fall. Seenotrett­ung auf jeden Fall. Aber so, dass es keine negativen Effekte hat, daran muss man arbeiten.“

Hoffnungen setzt Knaus nun in die neue EU-Führung. Er erwarte sich vor allem von der deutschen Migrations­politik, die von der Leyen zu hundert Prozent mitgetrage­n habe, „Impulse, die auch realistisc­h sind“. Die Umverteilu­ng in ganz Europa sei „vom Tisch, daran glaubt heute keiner mehr“.

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