„Die Mittelmeerdebatte wird viel zu ideologisch geführt“
Interview. Migrationsexperte Gerald Knaus erhofft sich von der neuen EU-Führung unter von der Leyen eine realistischere Politik
Am Tag nach der Wahl Ursula von der Leyens debattierte das EU-Parlament über das Reizthema Seenotrettung im Mittelmeer. Dabei relativierte der finnische Ratsvorsitz das Ausmaß der NGO-Missionen. Weniger als zehn Prozent der in Italien ankommenden Migranten würden 2019 von NGOs an Land gebracht. Generell zeichne sich eine Reduktion der Ankünfte um 50 Prozent ab.
Zuletzt sorgte die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete mit der Forderung für Aufsehen, alle Menschen, die in Libyen in Lagern oder von Schleppern festgehalten werden, nach Europa zu bringen.
Der österreichische Mig-rationsexperte Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) in Berlin hat 2016 den Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei mit-konzipiert. Im Interview kritisiert er Racketes Forderung: „Das ist vollkommen unrealistisch und auch nicht wünschenswert. Wenn man jetzt in größerer Zahl Menschen von Libyen nach Europa bringen würde, würde man dafür sorgen, dass sich noch mehr Menschen auf den Weg nach Libyen machen.“
Niedrige Zahlen
Sehr viele dieser Migranten würden aus Ländern kommen, deren Anerkennungsquoten in der EU gering sind, erklärt Knaus. Er argumentiert für einen pragmatischen Blick auf die Zahlen: „Wir haben in der ersten Hälfte 2019 weniger als 4.000 Leute, die von der libyschen Küstenwache gestoppt und zurückgebracht wurden. Die EU unterstützt diese Vorgangsweise mit Geld. Wir müssten darauf bestehen, dass diese Menschen nicht in die Folterlager kommen, sondern sofort UNHCR übergeben werden. Das wäre machbar, es fehlt nur am politischen Willen.“
In den offiziellen libyschen Lagern befänden sich derzeit weniger als 6.000 Menschen. „Die müsste man evakuieren und in ihre Herkunftsländer zurückbringen. Das wäre ein klares Zeichen.“
Das Rackete von einer halben Million insgesamt Betroffenen sprach (das UNHCR schätzt die Zahl von Migranten in Libyen auf 800.000, Anm.), findet Knaus irreführend: „Diese Zahlen muss man aus der Debatte herausnehmen. Ein Großteil stammt aus Nachbarländern Libyens und hat sich nie in die Boote gesetzt. Es ist ein großer Fehler der NGOs, wenn sie sagen, dass es um Hunderttausende geht.“
Die Debatte werde generell „viel zu ideologisch geführt“, sagt der ESI-Vorsitzende. „Wir brauchen einen moralischen Realismus. Evakuieren auf jeden Fall. Seenotrettung auf jeden Fall. Aber so, dass es keine negativen Effekte hat, daran muss man arbeiten.“
Hoffnungen setzt Knaus nun in die neue EU-Führung. Er erwarte sich vor allem von der deutschen Migrationspolitik, die von der Leyen zu hundert Prozent mitgetragen habe, „Impulse, die auch realistisch sind“. Die Umverteilung in ganz Europa sei „vom Tisch, daran glaubt heute keiner mehr“.