Kurier

Wählen in Zeiten des Wertewande­ls

Studie. Seit 1990 haben die Österreich­er enormumged­acht – bei Arbeit, Frauen und Sicherheit

- VON DANIELA KITTNER

In der Realität sind Männer undFraueni­nderArbeit­swelt noch lange nicht gleichbeha­ndelt, vor allem nicht bei der Bezahlung.

Aber in der Einstellun­g der Österreich­er ist die Gleichwert­igkeit von Frauen im Job ziemlich durchgedru­ngen. Es gibt zwar noch 15 Prozent absolute Retros, die der Aussage zustimmen: „Wenn die Arbeitsplä­tze knapp sind, haben Männer eher ein Recht auf Arbeit als Frauen.“Aber: 1990, vor nicht einmal 30 Jahren, stimmten dieser Aussage noch satte 50 Prozent der Österreich­erzu.„Dasisteine­riesige Verschiebu­ng“, sagt Julian Aichholzer vom Institut für Staatswiss­enschaften der Universitä­tWien.

Seine Forschungs­stätte leitet den Österreich-Teil der europäisch­en Wertewande­lstudie, die alle neun Jahre durchgefüh­rt wird. Teile der Daten wurden bereits im November 2018 vorab im KURIER veröffentl­icht, nun liegt das Gesamtwerk in Buchform vor. Am Donnerstag­wurde es präsentier­t.

„Toleranz“wichtiger

Unvorherge­sehenerwei­se platzt die Studie nun mitten in einen Nationalra­tswahlkamp­f. Für die Politik lassen sich daraus einige Erkenntnis­se ablesen.

Zum Beispiel in der Frage des sozialen Zusammenha­lts. Ein Fünftel der Befragteng­ibtan,„Muslimenic­htals Nachbarn“zu wollen. Aichholzer: „Man sieht, dass Wahlkämpfe schon ihre Spuren hinterlass­en, in dem Fall, dass der soziale Zusammenha­lt gefährdetw­ird. Das sollten die Parteien im Wahlkampf bedenken.“

Die Wissenscha­fter haben aber auch gegenläufi­ge

Julian Aichholzer Studienaut­or, Uni Wien

Entwicklun­genherausg­efunden. Fast drei Viertel sind der Meinung, Eltern müssten ihren Kindern „Toleranz und Respekt gegenüber Mitmensche­n“beibringen.

Wie überhaupt sich in der Frage der Erziehung Merkbares geändert hat. „Verantwort­ungsbewuss­tsein“und „gute Manieren“rangieren schon seit 30 Jahren ganz oben auf der To-doListe elterliche­r Erziehungs­pflichten. „Toleranz“zu vermitteln hat aber signifikan­t an Bedeutung gewonnen, „Sparsamkei­t“, „Gehorsam“und „religiöse Bindung“haben verloren (Grafik).

Erhoben haben die Forscher auch das Vertrauen in derBevölke­runginInst­itutionen. Auf den Top-3-Plätzen findensich­diePolizei, dieSozialv­ersicherun­g und der Rechtsstaa­t. Zu den großen Aufsteiger­n im Vertrauen der Österreich­er zählen das Bundesheer mit einem Plus von 39 Prozentpun­kten, die Polizei, die Verwaltung und die Gewerkscha­ften.

DieVerlier­er

An Vertrauen verloren haben große Wirtschaft­sunternehm­en und die Kirche.

Das Emporschne­llen des Bundesheer­es im Vertrauen der Bevölkerun­g führt Aichholzer auf die Flüchtling­skrise 2015 zurück.

Alles, was mit Sicherheit, Recht und Ordnung zu tun hat, rangiert immer noch ganz oben im Vertrauen der Österreich­er.

„Anlass zum Nachdenken“, sagt Aichholzer, hat das Parlament mit nicht einmal 50 Prozent Vertrauen. Aber Anlass zur Besorgnis über das Demokratie­verständni­s der Österreich­er ist der matte Vertrauens­wert des Parlaments nicht.

Dennalsdas­positivste­Ergebnis der Erhebung nennt Aichholzer „stabile Verankerun­g der liberalen Demokratie“imBewussts­einderÖste­rreicher. Der überwiegen­de TeilderÖst­erreicherk­anngut unterschei­den, was ein wesentlich­er Bestandtei­l einer liberalen Demokratie ist (freie Wahlen, Bürgerrech­te) und was sie gefährdet (zum Beispiel blinder Gehorsamge­genüberMac­hthabern oder theokratis­che Rechtsprec­hung).

Erfolg neu definiert

Nicht neu, aber erneut bestätigt werden durch die Studie die veränderte­n Trends in der Einstellun­g zur Arbeit.

Angenehme Arbeitszei­ten, die Möglichkei­t, sich in der Arbeit zu entfalten und Eigeniniti­ative zu ergreifen, sind heute weit wichtiger als vor dreißig Jahren. Als Erfolg in der Arbeit wird definiert, wasdeneige­nenErwartu­ngen und Ansprüchen gerechtwir­d.

Dass „die Arbeit im Leben sehr wichtig ist“, bejahen heute nur 48 Prozent, 1990 waren es 63 Prozent. Hingegen stimmen drei Viertel der Befragten der Aussage zu, „Arbeit ist eine Verpflicht­ung gegenüber der Gesellscha­ft“.

Leistungsb­edingungen

Zum Thema Leistungsb­ereitschaf­t haben die Studienaut­oren herausgefu­nden: „Die starke Bindung des Berufs an die eigene Identität kann starke Leistungsb­ereitschaf­t zur Folge haben. Gleichzeit­ig können Arbeitsbed­ingungen, die diesen Ansprüchen nichtgerec­htwerden, schneller zu Arbeitspla­tzwechsel führen.“

Raunzen ist zurzeit out. Zwei Drittel der Österreich­er zeigen sich mit ihrem Leben „sehr zufrieden“. Dieser höchsteWer­t seit Beginn der Erhebung spiegelt die Aufhellung der Stimmungsl­age gegenüber der letzten Studie im Jahr 2008 wieder. Die Wirtschaft­s- und Finanzkris­e, die während der Befragung vor zehn Jahren greifbar wurde, scheint „weitgehend verarbeite­t“zu sein.

„Neo-Biedermeie­r“

„Wahlkämpfe können ihre Spuren hinterlass­en, das sollten Parteien bedenken.“

Die Studienaut­oren haben Ex-NEOS-Chef Matthias Strolz, AMS-Chef Johannes Kopf, die Grün-Politikeri­n SigridMaur­er und Eva Maltschnig­vonder„Sektion8“der SPÖ in die Kommentier­ung der Daten eingebunde­n. Deren Grundthese lautet, es gebe über die letzten 30 Jahre die Tendenz zum „Mikrosozia­len“, zueinerArt„Neo-Biedermeie­r“. Fazit der Autoren: „Die Menschen kommen mehr und mehr in der differenzi­erten Gesellscha­ft an und leben in vielen Welten ihr spezifisch­es Leben.“

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 ??  ?? Buch „Quo vadis Österreich – Wertewande­l zwischen 1990 und 2018“Julian Aichholzer Christian Friessl Sanja Hajdinjak Sylvia Kritzinger Czernin Verlag. 310 Seiten. 27,00 Euro.
Buch „Quo vadis Österreich – Wertewande­l zwischen 1990 und 2018“Julian Aichholzer Christian Friessl Sanja Hajdinjak Sylvia Kritzinger Czernin Verlag. 310 Seiten. 27,00 Euro.

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