Wählen in Zeiten des Wertewandels
Studie. Seit 1990 haben die Österreicher enormumgedacht – bei Arbeit, Frauen und Sicherheit
In der Realität sind Männer undFraueninderArbeitswelt noch lange nicht gleichbehandelt, vor allem nicht bei der Bezahlung.
Aber in der Einstellung der Österreicher ist die Gleichwertigkeit von Frauen im Job ziemlich durchgedrungen. Es gibt zwar noch 15 Prozent absolute Retros, die der Aussage zustimmen: „Wenn die Arbeitsplätze knapp sind, haben Männer eher ein Recht auf Arbeit als Frauen.“Aber: 1990, vor nicht einmal 30 Jahren, stimmten dieser Aussage noch satte 50 Prozent der Österreicherzu.„Dasisteineriesige Verschiebung“, sagt Julian Aichholzer vom Institut für Staatswissenschaften der UniversitätWien.
Seine Forschungsstätte leitet den Österreich-Teil der europäischen Wertewandelstudie, die alle neun Jahre durchgeführt wird. Teile der Daten wurden bereits im November 2018 vorab im KURIER veröffentlicht, nun liegt das Gesamtwerk in Buchform vor. Am Donnerstagwurde es präsentiert.
„Toleranz“wichtiger
Unvorhergesehenerweise platzt die Studie nun mitten in einen Nationalratswahlkampf. Für die Politik lassen sich daraus einige Erkenntnisse ablesen.
Zum Beispiel in der Frage des sozialen Zusammenhalts. Ein Fünftel der Befragtengibtan,„Muslimenichtals Nachbarn“zu wollen. Aichholzer: „Man sieht, dass Wahlkämpfe schon ihre Spuren hinterlassen, in dem Fall, dass der soziale Zusammenhalt gefährdetwird. Das sollten die Parteien im Wahlkampf bedenken.“
Die Wissenschafter haben aber auch gegenläufige
Julian Aichholzer Studienautor, Uni Wien
Entwicklungenherausgefunden. Fast drei Viertel sind der Meinung, Eltern müssten ihren Kindern „Toleranz und Respekt gegenüber Mitmenschen“beibringen.
Wie überhaupt sich in der Frage der Erziehung Merkbares geändert hat. „Verantwortungsbewusstsein“und „gute Manieren“rangieren schon seit 30 Jahren ganz oben auf der To-doListe elterlicher Erziehungspflichten. „Toleranz“zu vermitteln hat aber signifikant an Bedeutung gewonnen, „Sparsamkeit“, „Gehorsam“und „religiöse Bindung“haben verloren (Grafik).
Erhoben haben die Forscher auch das Vertrauen in derBevölkerunginInstitutionen. Auf den Top-3-Plätzen findensichdiePolizei, dieSozialversicherung und der Rechtsstaat. Zu den großen Aufsteigern im Vertrauen der Österreicher zählen das Bundesheer mit einem Plus von 39 Prozentpunkten, die Polizei, die Verwaltung und die Gewerkschaften.
DieVerlierer
An Vertrauen verloren haben große Wirtschaftsunternehmen und die Kirche.
Das Emporschnellen des Bundesheeres im Vertrauen der Bevölkerung führt Aichholzer auf die Flüchtlingskrise 2015 zurück.
Alles, was mit Sicherheit, Recht und Ordnung zu tun hat, rangiert immer noch ganz oben im Vertrauen der Österreicher.
„Anlass zum Nachdenken“, sagt Aichholzer, hat das Parlament mit nicht einmal 50 Prozent Vertrauen. Aber Anlass zur Besorgnis über das Demokratieverständnis der Österreicher ist der matte Vertrauenswert des Parlaments nicht.
DennalsdaspositivsteErgebnis der Erhebung nennt Aichholzer „stabile Verankerung der liberalen Demokratie“imBewusstseinderÖsterreicher. Der überwiegende TeilderÖsterreicherkanngut unterscheiden, was ein wesentlicher Bestandteil einer liberalen Demokratie ist (freie Wahlen, Bürgerrechte) und was sie gefährdet (zum Beispiel blinder GehorsamgegenüberMachthabern oder theokratische Rechtsprechung).
Erfolg neu definiert
Nicht neu, aber erneut bestätigt werden durch die Studie die veränderten Trends in der Einstellung zur Arbeit.
Angenehme Arbeitszeiten, die Möglichkeit, sich in der Arbeit zu entfalten und Eigeninitiative zu ergreifen, sind heute weit wichtiger als vor dreißig Jahren. Als Erfolg in der Arbeit wird definiert, wasdeneigenenErwartungen und Ansprüchen gerechtwird.
Dass „die Arbeit im Leben sehr wichtig ist“, bejahen heute nur 48 Prozent, 1990 waren es 63 Prozent. Hingegen stimmen drei Viertel der Befragten der Aussage zu, „Arbeit ist eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft“.
Leistungsbedingungen
Zum Thema Leistungsbereitschaft haben die Studienautoren herausgefunden: „Die starke Bindung des Berufs an die eigene Identität kann starke Leistungsbereitschaft zur Folge haben. Gleichzeitig können Arbeitsbedingungen, die diesen Ansprüchen nichtgerechtwerden, schneller zu Arbeitsplatzwechsel führen.“
Raunzen ist zurzeit out. Zwei Drittel der Österreicher zeigen sich mit ihrem Leben „sehr zufrieden“. Dieser höchsteWert seit Beginn der Erhebung spiegelt die Aufhellung der Stimmungslage gegenüber der letzten Studie im Jahr 2008 wieder. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die während der Befragung vor zehn Jahren greifbar wurde, scheint „weitgehend verarbeitet“zu sein.
„Neo-Biedermeier“
„Wahlkämpfe können ihre Spuren hinterlassen, das sollten Parteien bedenken.“
Die Studienautoren haben Ex-NEOS-Chef Matthias Strolz, AMS-Chef Johannes Kopf, die Grün-Politikerin SigridMaurer und Eva Maltschnigvonder„Sektion8“der SPÖ in die Kommentierung der Daten eingebunden. Deren Grundthese lautet, es gebe über die letzten 30 Jahre die Tendenz zum „Mikrosozialen“, zueinerArt„Neo-Biedermeier“. Fazit der Autoren: „Die Menschen kommen mehr und mehr in der differenzierten Gesellschaft an und leben in vielen Welten ihr spezifisches Leben.“