Brexit: Weder EU noch Briten sind vorbereitet
Industrie warnt vor ungeregeltem Austritt
Sofern das Parlament in London nichts anderes beschließt, steuert das Vereinigte Königreich auf einen ungeregelten EU-Austritt am 31. Oktober zu. Premier Boris Johnson will das Stichdatum unbedingt einhalten, notfalls ohne Deal. Nun warnt der britische Wirtschaftsverband CBI: In 24 von 27 Bereichen, von der Zollabfertigung bis zu Agrargütern und Datenströmen, seien weder EU, Vereinigtes Königreich noch Unternehmen auf einen harten Brexit vorbereitet. Dort würden Verwerfungen drohen. Laut Studien wäre der Schaden für die Briten größer als für die EU. Autohersteller PSA droht, den Nachfolger des Opel Astra nicht mehr auf der britischen Insel zu bauen.
Boris Johnson weiß hoch zu pokern. Und kaum jemand in Brüssel kann einschätzen, ob er blufft oder nicht. Der Mann will raus aus der EU. Koste es, was es wolle. Und damit trifft er einen Nerv. Denn die Briten haben das ewige Gezerre um den Brexit satt. Wie gut sind die Karten des neuen Premiers wirklich? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Johnson sagt, er will den Brexit auf jeden Fall am 31. Oktober durchziehen. Ist der Austritt durch seine Bestellung realistischer geworden?
Ja, sagt die britische Politologin Melanie Sully. Johnson hat aus der EU-Wahl gelernt, bei der Nigel Farage gewonnen hat, der für einen „NoDeal-Brexit“(einen Austritt ohne Abkommen mit der EU) geworben hat. Viele sind in Großbritannien offenbar bereit, das zu akzeptieren. Johnson versucht zwar, das Abkommen mit Brüssel nachzuverhandeln – bisher ohne Erfolg. Parallel bereitet er alles für den harten Brexit vor. Einen Kandidaten für die neue EU-Kommission, die im November zusammentritt, will er nicht nennen.
Müssen die EU-Bürger in Großbritannien einen harten Brexit fürchten?
Johnson verspricht EUBürgern in Großbritannien für diesen Fall ein Bleiberecht. In vielen anderen Bereichen wird die konkrete Auswirkung eines Austritts ohne Abkommen vom politischen Willen abhängig (Bericht rechts) sein.
Das Parlament hatte sich im März gegen einen harten Brexit ausgesprochen. Was bedeutet das für Johnson?
Nicht viel. Zwar ist die Mehrheit der Abgeordneten immer noch gegen einen NoDeal-Brexit, aber sie haben kein Gesetz dagegen beschlossen. Als sie sich im März dagegen ausgesprochen hatten, versprach die damalige Premierministerin Theresa May ohnehin, mit allen Mitteln einen harten Brexit zu verhindern, ein Gesetz wurde beschlossen, um May zu zwingen, eine Verschiebung zu beantragen. Aber May tat das, bevor das Gesetz durch war.
Wie kann das Parlament seinerseits einen harten Brexit noch verhindern?
Durch einen Misstrauensantrag gegen die Regierung Johnson. Aber auch das könnte einen harten Brexit möglicherweise nicht auf halten. Denn die Neuwahlen würden frühestens am 24. Oktober stattfinden. Beziehungsweise hätte Johnson die Möglichkeit – auch wenn ihm das Vertrauen entzogen wird – der Queen vorzuschlagen, die Wahl am 31. Oktober, also am Austrittstag, abzuhalten.
Ist die Position des Parlaments gegenüber der Regierung geschwächt?
Ja, denn die Tagesordnung wird von der Regierung bestimmt. „Auf jeden Fall muss das Parlament sehr gut überlegen, was es tut“, sagt Sully. Ein Misstrauensantrag könnte Neuwahlen bedeuten, und ab dem Moment, in dem Neuwahlen angekündigt werden, arbeite das Parlament nicht mehr. Die Abgeordneten müssen dann ihre Büros räumen. Derzeit arbeiten Abgeordnete Strategien aus, wie sie nach der Sommerpause (3. September) vorgehen werden.
Wie (re)agiert Brüssel?
Auch in Brüssel ist Sommerpause. Dort sind theoretisch immer noch Michel Barnier und sein Team für die Verhandlungen zuständig. Doch mehrmals hatte er betont, dass seine Arbeit mit dem May-Abkommen abgeschlossen sei. Er bräuchte ein neues Mandat vom Europäischen Rat für weitere Verhandlungen. Das ist nicht in Sicht. Auch Emmanuel Macron und Angela Merkel luden Boris Johnson zuletzt zwar zu Gesprächen ein – Verhandlungen schließen sie aus.