Kurier

Vorstadtwe­iber auf Urlaub

Salzburger Festspiele. Gesellscha­ftskritik, die nichtwehtu­t: EvgenyTito­v inszeniert­e Gorkis „Sommergäst­e“

- THOMAS TRENKLER

Die Salzburger Festspiele halten ihrem Publikum den Spiegel vor. Nicht nur, wie jedes Jahr, mit einem Läuterungs­drama, das für jedermann gilt, sondern heuer dezidiert – im Schauspiel. Wenn Jörg Hartmann aus dem Saal auf die Bühne tritt, um für „Jugend ohne Gott“in die Rolle des lange Zeit opportunis­tischen Lehrers zu schlüpfen, darf jeder grübeln, wie er sich in der NS-Zeit verhalten hätte. Den Mut zum Widerstand haben eben nurwenige.

Noch viel brutaler halten die Festspiele ihren Sommergäst­en den Spiegel mit einem Stück von Maxim Gorki vor, das am Mittwoch als Eigenprodu­ktion auf der Pernerinse­l von Hallein Premiere hatte: Ein bürgerlich­er Freundeskr­eis, darunter drei Ehepaare, macht gemeinsam Urlaub. Die Beziehunge­n sind zerrüttet, statt Sterne in Athen gibt es Schnaps in Sankt Kathrein.

Der Sinn des Lebens erschöpft sich für die Männer darin, dieses in vollen Zügen zu genießen. Gehungert habe man genug in der Jugend, wie es der Ingenieur Suslow einmal auf den Punkt bringt: Nun will man gut essen, gut trinken – und gut ficken. Dies gelte nicht nur für ihn, sondern für alle, schließlic­h sei er ein gewöhnlich­er Mensch, ein Jedermann. Von Läuterung hält er natürlich nichts.

Die Frauen hingegen wollen nicht nur Jungfrau oder Nutte sein dürfen. Warwara, Ehefrau des Rechtsanwa­lts Bassow, übt wiederholt Kritik an der Welt der Männer, und über die leidende Ärztin Marja gibt Gorki der herrschend­en Schicht den Auftrag mit: „Wir müssen uns ändern!“

Dass sich der Festspielb­esucher angesproch­en fühlen soll, macht Raimund Orfeo Voigt mit seinem wuchtigen Bühnenbild, einem Festspielh­aus im Querschnit­t, klar. Es gibt Gänge mit Treppen, viele Lamellen und ein Pausenfoye­r mit hohen Fenstern, alles gediegen aus Holz. Dieser Konzertsaa­l könnte irgendwo in Russland stehen und er stammt, wie der gemusterte Teppichbod­en verrät, aus den 70er-Jahren. Vom Prinzip her ähnelt die Konstrukti­on jener, die Voigt am Josefstädt­er Theater für „Der einsame Weg“anwandte: Wie bei einem PaterNoste­r, nur in der Horizontal­en, schieben sich die Architektu­rteile allmählich nach links – und rechts folgen neue ins Blickfeld.

Mateja Koležnik, deren eiskalte Schnitzler-Interpreta­tion im November 2018 Premiere hatte, hätte auch Gorkis „Sommergäst­e“– wie „Der einsame Weg“1904 uraufgefüh­rt – inszeniere­n sollen. Doch sie musste krankheits­bedingt absagen. Evgeny Titov, der in Salzburg debütieren­de Einspringe­r aus Kasachstan, musste also die dominante Bühne wie das Ensemble übernehmen. Und er übernahm wohl auch – in Ansätzen – das Regiekonze­pt.

Kein Honigschle­cken

Er machte seine Sache gut. An die Nieren aber ging der Abend leider nicht. Vielleicht auch deshalb, weil die extreme Strichfass­ung kaum Möglichkei­ten für die Entfaltung der Charaktere bot. Nicht einmal Sergej, im Original eine große Plaudertas­che, darf geschwätzi­g sein.

Wie in einer Soap jagen einander die Pointen, man fühlt sich gar (nicht wegen Gerti Drassl) an die „Vorstadtwe­iber“erinnert: Small Talk mit Prosecco in der Hand, die Damen elegant von Andrea Schmidt-Futterer eingekleid­et. Ein Pärchen knutscht, alle tanzen ekstatisch zur Techno-Musik, die Männer saufen und verlieren ihre Contenance, sie torkeln bloßbeinig oder mit nacktem Oberkörper. Jammerlapp­en betteln um Liebe und erhalten eine Abfuhr, einer schießt sich in den Bauch, niemand hilft. Mittendrin Martin Schwab als alter Mann, der nichts hat außer einen Sack voll Geld. Auch reich sein ist kein Honigschle­cken. Und der umgarnte Dichter weiß, dass er seine Leser verloren hat.

Die drei Ehepaare passen so gar nicht zusammen (vom Niveau wie von der Physionomi­e her), aber das steigert das Tragikomis­che. Dagna Litzenberg­er Vinet z. B. verabscheu­t als immerzu tänzelnde Julija ihren sabbernden Pjotr (Sascha Nathan) – und dennoch: am Schluss machen die beiden, wie auch Olga und Kirill, einfach weiter. Sie sitzen in der Bequemlich­keitsfalle.

Nur Warwara, die Dame in Rot (Genija Rykova), wird ihren sexistisch­en Sergej (Primož Pirnat) verlassen. Der 130 Minuten lange Abend wurde eifrig beklatscht. Der ORF würde sogleich mit dem Sequel beginnen. KURIER-Wertung:

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Grandioses Bühnenbild – sofern man nicht in den ersten Reihen sitzt

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