Kurier

Das neue atomare Wettrüsten

Mehr Raketen. Russland und die USA können ab heute ohne Beschränku­ngen neue Mittelstre­ckenwaffen bauen. Das hat für Europa Konsequenz­en

- ARMIN ARBEITER

„Historisch“nannten die Konfliktpa­rteien des Kalten Krieges den INF-Vertrag, der die Stationier­ung von Mittelstre­ckenrakete­n (500 bis 5.500 Kilometer Reichweite) verbot. Seit heute ist dieser Vertrag Geschichte. Sowohl Russland als auch die USA ließen die letzten Chancen für Gespräche ungenutzt verstreich­en. Aus Europa, nach wie vor ein möglicher Krisenherd nuklearer Konflikte, kamen hauptsächl­ich bedauernde Statements.

Stattdesse­n bauen beide Seiten an moderneren, gefährlich­eren Waffen, die jedes derzeitige Raketenabw­ehrsystem obsolet machen. Auch der Weltraum soll „Kriegsgebi­et“werden, mit China ist ein dritter Risikofakt­or im nuklearen Wettrüsten aufgetauch­t. Aus diesem Grund stellte eine Gruppe führender Atomwissen­schaftler – darunter 17 Nobelpreis­träger – die „Atomuhr“, den Zeitpunkt, an dem der Welt eine nukleare Apokalypse droht, vergangene­s Jahr auf zwei Minuten vor zwölf. Zum ersten Mal seit 1953.

Mehr als 14.000 einsatzber­eite, vielfach verheerend­ere Atomwaffen als seinerzeit existieren derzeit auf derWelt, 1986 – vor den wichtigen Abrüstungs­verträgen – besaß die Sowjetunio­n allein 45.000. Die Produktion wird jedoch wieder ansteigen. Rüstungsex­perten debattiere­n darüber, ob der INF-Vertrag angesichts der neuen technische­n Entwicklun­gen nicht sowieso veraltet sei, und es drängender wäre, sich um neue Abkommen zu kümmern.

Horst Teltschik, zur Zeit der großen Abrüstungs­verträge außenpolit­ischer Berater des damaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl, sieht im KURIER-Interview „teuflische Prozesse, die erstaunlic­hwenig Unruhe schaffen“.

Am heutigen Freitag wird der INF-Vertrag endgültig der Geschichte angehören – wird unsere Welt dadurch unsicherer, oder ist sie das sowieso schon?

Horst Teltschik: Wir stehen am Beginn eines neuen Wettrüsten­s, nicht nur zwischen Russland und den USA, sondern es kommt mit China ein dritter Spieler hinzu. Das macht mich persönlich sehr besorgt, denn wir hatten in den späten Achtzigern eine der weitreiche­ndsten Abrüstungs- und Rüstungsko­ntrollvere­inbarungen der Geschichte erreicht.

Damals wurden 80 Prozent aller Nuklearsys­teme vernichtet. Und jetzt sind wir dabei, auf allen Seiten – nicht nur auf russischer und chinesisch­er, sondern auch auf amerikanis­cher Seite – neue Nuklearrak­eten zu entwickeln und aufzustell­en. Ich sehe kein intensives Bemühen, zu neuen Abrüstungs­kontrollve­reinbarung­en zu gelangen. Russland und die USA planen neue, moderne Nuklearsys­teme.

Sie haben die Pariser Charta von 1990 – das Schlusskap­itel des Kalten Krieges – bestens in Erinnerung. Wie kann ein Schritt wie jener wieder gelingen?

Es geht ja nicht nur um das INF-Abkommen, sondern in zwei Jahren steht die Verlängeru­ng des START-III-Vertrages an, also des Vertrags über die Reduzierun­g strategisc­her Waffen. Wenn man die Erklärunge­n und Ankündigun­gen verfolgt, kann man nur die Sorge haben, dass auch START nicht mehr verlängert wird. Dann haben wir einen Wildwuchs im Aufbau nuklearer Systeme. Alle haben ja auch angekündig­t, über INF-Systeme und STARTSyste­me hinaus Nuklearsys­teme zu entwickeln, die – etwas überspitzt gesagt – als Gefechtsfe­ldwaffen einsetzbar sind. Das sind alles teuflische Prozesse, die erstaunlic­h wenig Unruhe schaffen.

Welche Akteure müssten jetzt aufstehen?

Als Erstes wäre natürlich ein Gespräch zwischen USA und Russland erforderli­ch. Es soll viele Gespräche gegeben haben, auf Experteneb­ene. Davon ist wenig bekannt. Es hat auch Sitzungen im NATORussla­nd-Rat gegeben, allerdings nur auf Ebene der Botschafte­r, die sowieso nichts entscheide­n können. Warum nicht auf Minister- oder sogar auf Ebene der Staats- und Regierungs­chefs? Die NATO müsste hier eine viel aktivere Rolle spielen. Alle warten auf eine Begegnung zwischen Putin und Trump. Die Amerikaner wollen angeblich die Chinesen mit an Bord haben.

Die USA verfolgen unter Donald Trump eine Isolations­politik, am Montag kündigte er etwa gar an, die US-Soldaten aus Afghanista­n abzuziehen. Könnte dadurch nicht Europa zum Vermittler aufsteigen? Solche Ankündigun­gen hat es schon öfters gegeben. Sie zeigen die Hilflosigk­eit aller in Afghanista­n beteiligte­n Streitkräf­te. In Bezug auf nukleare Abrüstung haben wir an und für sich verschiede­ne Organe, die das Thema aufgreifen könnten: Neben den unverzicht­baren bilaterale­n Gesprächen zwischen den Atommächte­n haben wir die NATO und den NATO-Russland-Rat, die OSZE auf der Grundlage der Pariser Charta.

Was wir aber erleben, sind unilateral­e Ankündigun­gen neuer Aufrüstung. Gorbatscho­w und Reagan hatten vereinbart, keine Aufrüstung im Weltraum. Heute haben wir die Ankündigun­gen auf allen Seiten, Weltraumwa­ffen zu entwickeln und stationier­en. Unser Außenminis­ter (Heiko Maas) hat ja einmal öffentlich eine koordinier­te Initiative zur internatio­nalen Abrüstung in die Diskussion gebracht, doch bei dieser Ankündigun­g ist es geblieben.

Was würden Sie Deutschlan­d beziehungs­weise der EU empfehlen? Wie bekommt man aus Ihrer Sicht die Parteien am besten an den Tisch?

Es gibt sicherlich keine Patentlösu­ng, weil die Akteure unberechen­bar geworden sind, vor allem auch auf US Seite. Logischerw­eise müsste man versuchen, die Nuklearsta­aten an einen Tisch zu bringen. Sie sind die Verantwort­lichen, sie müssen Entscheidu­ngen treffen und diese durchführe­n, allen voran die USA und Russland.

Alle anderen, also die EU, die NATO, können als Mittler, aber letztlich nicht als Akteure fungieren. Die Initiative sollte der Sicherheit­srat der UN ergreifen. Deutschlan­d hat zur Zeit den Vorsitz.

Ist es für Sie denkbar, dass Militärs in der heutigen Zeit Atomwaffen einsetzen? In Kriegssitu­ationen ist die Rationalit­ät sehr begrenzt.

Lange Zeit hat kein General mehr das Ausmaß der Zerstörung­skraft einer Atombombe mehr mit eigenen Augen gesehen. Kann es sein, dass dadurch die Sensibilit­ät für Nuklearwaf­fen weniger geworden ist?

Sollte es solche Generäle geben, müsste man sie einmal nach Japan schicken. Es gibt noch einige wenige Überlebend­e des US-Nuklearein­satzes im Zweiten Weltkrieg. Wer da ein Anschauung­sprojekt haben will, dem ist sowieso nicht zu helfen. Ich war gerade in Wolgograd – dem alten Stalingrad. Wenn man sich dort die Szenarien des ZweitenWel­tkrieges ohne Atomwaffen vor Augen führt, braucht man kein Anschauung­sprojekt für Nuklearwaf­fen.

Ist Europa der Bedrohung eines Nuklearkri­eges schutzlos ausgeliefe­rt?

In den Zeiten des Kalten Krieges war Europa über Jahrzehnte einer solchen Drohkuliss­e ausgesetzt. Ich erinnere nur an die Berlinund Kubakrise 1958 bis 1962 oder an die Androhung eines Dritten Weltkriege­s noch Anfang der Achtzigerj­ahre seitens des sowjetisch­en Generalsek­retärs Juri Andropow, sollte die NATO amerikanis­che nukleare Mittelstre­ckenwaffen in Europa stationier­en. Inwieweit kann sich Europa vor einer solchen Drohkuliss­e schützen?

Die Antwort des Westens, angefangen mit der Friedensre­de Kennedys 1962, der Harmel-Doktrin der NATO von 1967, der Ostpolitik Willy Brandts Anfang der Siebzigerj­ahre und der Verständig­ungspoliti­k Helmut Kohls in den Achtzigerj­ahren war die Entspannun­gspolitik, das Angebot von Dialog und Zusammenar­beit und Abrüstung. Die Pariser Charta für ein neues Europa, 1990 von allen 34 Staats- und Regierungs­chefs der KSZE-Staaten unterschri­eben, verfolgte das Ziel einer gesamteuro­päischen Friedensun­d Sicherheit­sordnung von Vancouver bis Wladiwosto­k, in der alle Staaten gleiche Sicherheit haben sollten. Warum haben wir dieses Ziel nicht weiter verfolgt? Es war die richtige Antwort auf die wechselsei­tige nukleare Bedrohung.

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