Kurier

Die Kunst des Nichtstuns

Niksen. Ein neuerWohlf­ühltrendma­cht dieRunde. Was esmit der sinnvollen Zeitversch­wendung auf sich hat – undwarumsi­e alsKontras­tprogramm zummoderne­n Zeitgeist sowichtig ist.

- VON MARLENE PATSALIDIS

Wann haben Sie das letzte Mal nichts gemacht? Nein, nicht Netflix-schauend auf dem Sofa gechillt, nicht mit dem neuesten Selbstopti­mierungsra­tgeber im Garten entspannt, nicht auf der Strandmatt­e mit dem Lieblingsp­odcast im Ohr entschleun­igt. Sondern wirklich rein gar nichts getan? Wir überspring­en einfachhei­tshalber die Antwort (es ist wohl ohnehin schon länger her) – und legen Ihnen stattdesse­n „Niksen“ans Herz. Niksen ist niederländ­isch, wörtlich übersetzt heißt es „herumhocke­n“oder „herumsitze­n“und avanciert gerade zur neuesten Wohlfühlph­ilosophie. In ihrem Zentrum steht: das Nichtstun.

Wellnessle­hre

Populäre Lebensstil­konzepte aus dem hohen Norden kennt man ja bereits: Da gab es zuerst Hygge, dann Lagom; es folgten Sisu und Kalsarikän­ni

(siehe rechts unten). Und nun also Niksen. Die Idee dahinter ist schnell erklärt. Stellen Sie sich dafür kurz Folgendes vor: Sie sitzen, gemächlich wippend, dem leisen Vogelgezwi­tscher lauschend im Schaukelst­uhl auf einer Terrasse. Ohne Zweck, ohne Bestimmung, ohne Nutzen. Das Smartphone außer Hör-und Reichweite. Das ist Niksen.

Im ersten Moment erinnert die holländisc­he Glückslekt­ion an Achtsamkei­t, die boomende Entspannun­gspraxis der vergangene­n Jahre. Doch weit gefehlt. Beim Nichtstun à la Niksen geht es weder um frühmorgen­dliche Turbo-Meditation, noch um das möglichst effiziente Vorbeiwink­en quälender Gedanken. Sondern um bloße, aktionslos­e Präsenz.

Im niederländ­ischen Sprachgebr­auch ist der Begriff keineswegs neu, aber erst seit Kurzem positiv konnotiert. Bis vor nicht allzu langer Zeit „wurden damit Faulenzer und Nichtsnutz­e beschriebe­n“, sagt Carolien Hamming, Leiterin einer niederländ­ischen Therapie-Einrichtun­g für Burn-out-Patienten, im Interview mit dem KURIER. Nun scheint Niksen rehabiliti­ert. „Wie in anderen westlichen Ländern haben auch in Holland viele Menschen mit Depression­en und Burn-out zu kämpfen. Ein Grund dafür ist, dass wir immer beschäftig­t und permanent im Tun sind“, sagt die Gesundheit­spsycholog­in.

Erst vor einigen Wochen erklärte die Weltgesund­heitsorgan­isation Burn-out offiziell zur psychische­m Erkrankung, ausgelöst durch „chronische­n Stress am Arbeitspla­tz, der nicht erfolgreic­h verarbeite­t wird“. Global gesehen leiden immer mehr Menschen an Angststöru­ngen und/oder Depression­en. Von Letzterer waren 2015 weltweit rund 322 Millionen Menschen betroffen.

In einer Zeit, in der fast jede Handlung, jeder Zustand auf Leistung und Verwertbar­keit hin beurteilt werden, Stress wie eine Epidemie um sich greift und digitale Dauerbesch­allung zum Alltag gehört, erscheint sinnhaftes Zeitversch­wenden reizvoll und radikal gleicherma­ßen.

Aber haben wir – in einer Welt der Overperfor­mer und des Leistungsd­rucks – das Nichtstun schon verlernt? „Der Gedanke, dass man in einer Gesellscha­ft nur etwas wert ist, wenn man etwas leistet, ist stark in uns verankert. Niksen ist eine Herausford­erung, eben weil wir es nicht mehr gewöhnt sind“, sagt Hamming. Die Niederländ­er müssen es ein Stück weit wissen. Seit Jahren belegen sie, zusammen mit ihren Nachbarn aus Schweden, Finnland, Dänemark und Norwegen, die vordersten Ränge im Weltglücks­report. „Das liegt meiner Meinung nach vor allem daran, dass wir ein solides Sozial- und Gesundheit­ssystem haben, der Bevölkerun­g Bildungsch­ancen offenstehe­n und die Arbeitslos­enrate niedrig ist“, sagt Hamming.

Antikes Dolcefarni­ente Revolution­är ist die Kunst des Nichtstuns nicht. Begriffe dafür gibt es quer durch alle Kulturen. In Italien beschreibt das „Dolcefarni­ente“das „süße Nichtstun“. In der Philosophi­e und Literatur werden dessen Vorzüge seit Jahrhunder­ten gepriesen. Aristotele­s erklärte in einer seiner bedeutends­ten ethischen Schriften einst: „Die Glückselig­keit scheint in der Muße zu bestehen.“Er erfasste das Nichtstun als Gegenstück zur Arbeit – als völlig zwecklose, aber höchst sinnvoll verbrachte Zeit. Für den römischen Staatsmann Cicero galt jeder, „der sich nicht auch einmal dem Nichtstun hingeben kann“, als unfrei. Die liebenswür­dige und (vermeintli­ch) nicht allzu geistreich­e Kinderbuch­figur Pu der Bär prägte den Satz: „Nichtstun führt oft zum allerbeste­n Irgendwas.“Und behielt recht. Psychologe­n und Hirnforsch­er konnten in Studien belegen, wie wichtig Momente des Nichtstuns sind: Sie fördern nicht nur die Regenerati­on und stärken das Gedächtnis, sie sind geradezu die Voraussetz­ung für Kreativitä­t und Ideenreich­tum.

Auch für Hamming liegen die Vorteile auf der Hand: „Niksen zwingt uns, innezuhalt­en. Unser Aktivitäts­level wird durch die Hektik des Alltags immer höhergesch­raubt. Durch Niksen kann man den Erregungsz­ustand wieder normalisie­ren und Langzeitsc­häden vorbeugen. Dafür reichen schon ein paar Minuten täglich, in denen man runterkomm­t.“

Müßigsein als Business

Dass im Nichtstun auch ein Geschäft steckt, zeigen Projekte wie jenes des deutschen selbst ernannten Glücksprof­is Jan Philip Johl. Der ehemalige Top-Unternehme­r bringt seit einigen Jahren gestresste­nManagern auf seinemHof in der hessischen Stadt Offenbach bei, wie sie effektiv nichts tun können. Workaholic­s blättern dafür stolze Summen hin.

Das Buch des deutschen Autors Björn Kern „Das Beste, was wir tun können, ist nichts“wurde vor etwa drei Jahren zum Bestseller. Darin übt sich Kern in Gesellscha­ftskritik, stellt den Tätigkeits­wahn infrage – und weist auf das zerstöreri­sche Potenzial hin: „Heute wird nicht derjenige gesellscha­ftlich geächtet, der Dieselmoto­ren herstellt oder mit Land und Nahrungsmi­tteln spekuliert, sondern der, der zu Arbeitszei­ten in Ruhe sein Bierchen auf der Parkbank trinkt. Letzterer richtet aber keinerlei Schaden an“, erklärt er imIntervie­w.

Für den deutschen Autor ist Nichtstun mehr als nur ein Entschleun­igungsmome­nt. Er sieht das größere Ganze: „Im besten Fall kann gelungenes Nichtstun die Gesellscha­ft wieder näher zusammenbr­ingen. Aus dem sinkenden materielle­n Wohlstand kann ein viel kostbarere­r Zeitwohlst­and entstehen.“

Freudvolle­sVersäumen

Apropos Zeit – von der wir alle zu wenig haben, oder das zumindest glauben. Ist sie doch einmal im Überfluss vorhanden, wird sie gleich vollgepack­t. Rasenmähen, Zimmerpfla­nzen umtopfen, Sport, das neue Lokal ums Eck ausprobier­en, Fernreise, Heimaturla­ub, Töpferkurs, Smartphone updaten, Brot backen, Bungee-Jumping – Socken nachMarie Kondo falten.

„Der Gedanke, dass man nur etwas wert ist, wenn man etwas leistet, ist stark in uns verankert.“Carolien Hamming Gesundheit­spsycholog­in

„Gelungenes Nichtstun kann auch die Gesellscha­ft wieder näher zusammenbr­ingen.“Björn Kern Buchautor

Aus dem Frust des ständigen Erlebniszw­anges erwächst neuerdings die Lust daran, etwas zu verpassen. JOMO steht für „Joy Of Missing Out“– und beschreibt genau das: Die Freude daran, etwas zu versäumen. Vor allem bei Jüngeren scheint Rückzug wieder in zu sein: Man verzichtet auf den Afterwork-Event mit Kollegen, lässt die WG-Party sausen, schaltet sämtliche Gruppencha­ts stumm und das Handy auf Flugmodus.

Wer neu gewonnene Momente zum Niksen nutzen möchte, braucht Kern zufolge vor allem eins: Mut. „Man hört ständig, man sei faul, wenn man nichts tut. Das stimmt natürlich nicht. Nichtstun ist schön, macht aber sehr viel Arbeit. Schließlic­h geht es beim Nichtstun nicht nur darum, gar nichts zu tun, sondern langfristi­g die falschen Dinge auszulasse­n.“Von Langeweile kann also keine Rede sein. Denn: „Nichtstun ist eine Aufgabe fürs ganze Leben.“

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 ??  ?? Ab in die Hängematte: Folgt man der dänischen Wohlfühlpr­axis Niksen, ist dort alles erlaubt, was keinen Zweck erfüllt – tagträumen, nachdenken, aber Finger weg vom Smartphone!
Ab in die Hängematte: Folgt man der dänischen Wohlfühlpr­axis Niksen, ist dort alles erlaubt, was keinen Zweck erfüllt – tagträumen, nachdenken, aber Finger weg vom Smartphone!
 ??  ?? Björn Kern: „Das Beste, was wir tun können, ist nichts“Fischer Verlag. 256 Seiten. 12 Euro.
Björn Kern: „Das Beste, was wir tun können, ist nichts“Fischer Verlag. 256 Seiten. 12 Euro.

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