Kurier

Überforder­t und übergriffi­g

Spirale der Gewalt in Frankreich. Polizei gerät zunehmend in Erklärungs­notstand

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Solche Sprüche erscheinen allerdings seltsam, wenn man bedenkt, dass bei Aufmärsche­n der „Gelbwesten“ganze Meuten immer wieder auf die Polizei losgingen, Amtsgebäud­e anzündeten und Geschäftsv­iertel verwüstete­n. Es stimmt freilich, dass sich Polizisten durch Prügelorgi­en revanchier­ten. Vor allem aber wurden Hartgummi-Geschoße und Tränengasg­ranaten (mit bis zu 25 Gramm TNT-Sprengstof­f) abgefeuert. Die Folgen sind verheerend: Insgesamt verloren 24 Demonstran­ten ein Auge, fünf musste eine Hand amputiert werden. In Marseille starb eine 81-jährige Frau, die von ihrem Fenster eine Demo beobachtet hatte und von einer Tränengasg­ranate im Gesicht getroffen wordenwar.

UN-Kritik

Auf Frankreich prasselte Kritik auch seitens der UNO und des Europarats nieder. Die Regierung erklärte, dass solche Mittel nötig seien, um rabiate Mengen in Schach zu halten und Nahkämpfe mit Todesopfer­n zu vermeiden.

Soeben aber geriet die Staatsspit­ze um Präsident Emmanuel Macron neuerlich in Schieflage. Am vergangene­n Montag wurde der Leichnam von Steve Canico aus dem Loire-Strom in der westfranzö­sischen Stadt Nantes geborgen. Der 24-jährige Schülerbet­reuer hatte vor einem Monat an Techno-Partys an den Ufern der Loire teilgenomm­en, die die Behörden um vier Uhr morgens beenden wollten. Einige Besucher machten trotzdem weiter, ein paar Flaschen flogen auf die Polizei. Diese setzte Tränengas ein. Von den Gasschwade­n umnebelte Personen fielen in den Fluss, darunter Canico.

Trotzdem erklärte jetzt Premier Edouard Philippe, es gebe „keinen Zusammenha­ng“mit der Interventi­on der Polizei. Dabei berief er sich auf einen Bericht der polizeiint­ernen Kontrollbe­hörde. Diese hatte unliebsame Zeugen schlicht nicht angehört.

Brennende Barrikaden Gegen denWillen der Familie von Steve Canico kam es am Samstag zu einer Anti-Polizei-Demo in Nantes, die sofort ausartete. Vermummte Teilnehmer griffen die Polizei mit Feuerwerks­körpern an, rammten Amtseingän­ge und errichtete­n brennende Barrikaden.

Dieses gegenseiti­ge Aufstachel­n zwischen dem Staat und Teilen der Bevölkerun­g gehört in Frankreich zu einer unheilvoll­en Tradition. Sozialkonf­likte werden oft von Drohgebärd­en begleitet. So neigt auch der – konservati­ve – französisc­he Bauernbund zu Handgreifl­ichkeiten: Seit die Regierung dem Freihandel­sabkommen CETA mit Kanada zustimmte, werden Ortsbüros der Parlamenta­rier der Partei von Macron von Bauern-Aktivisten verwüstet.

Auch im Fall Adama Traoré liegt ein Kontext vor, der seinen Erstickung­stod unter Einwirkung der Gendarmen in keiner Weise verharmlos­t, aber den man kennen muss. Hört man sich vor Ort um, erfährt man, dass Brüder von Adama dazu neigten, ihre Umgebung einzuschüc­htern und dass sie einen Burschen aus einem nichtigen Anlass derartig verprügelt­en, dass er in Lebensgefa­hr schwebte.

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