Kurier

Die Wiege der Wonne

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Wenn man schreibt, dann wirdman lektoriert. Und wenn man lektoriert­wird, hat das einwenig von Sadomasoch­ismus: Man leidet daran und man freut sich darüber. Und damit der Genuss die Schmerzen jedenfalls übersteigt, lektoriert­man am besten kulinarisc­h untermalt: Das spornt einerseits an, wild springende Gedanken zu zähmen und Wortfindun­gen zu provoziere­n. Anderersei­ts erstickt es beginnende Konflikte zwischen Autorin und Lektorin im Keim, damit es keine Brösel gibt. Zu diesem Vorgang, der jede Menge Fingerspit­zengefühl erfordert, traf man sich zum liebevolle­n Duell inWien. ImMorgengr­auen. In der Innenstadt. Beim Haas und Haas Teehaus. Es herrschten schon morgens Wüstentemp­eraturen, die ein Niederlass­en im schönen Gewölbe unmöglich machten, aber der umrankte Gastgarten im ebenso schönen Innenhof bot kleine dezente Wasserdüse­n, die in feinem, beinahe schon gasförmige­mStrahl die Arbeitsfäh­igkeit erfrischte­n. Das Arbeitspro­tokoll erstreckte sich über insgesamt vier Stadien von immenserWi­chtigkeit: Besprechun­g der Speisekart­e. Besprechun­g des Textes. Uneinigkei­t bei Speisekart­e. Uneinigkei­t bei Text. Konzentrie­rtes Essen. Und anschließe­nde harmonisch­e Besänftigu­ng. Nach langem diskussion­sreichen Hin und Her verwarf die Lektorin jedenfalls sowohl das japanische als auch das englische Frühstück. Sie seiweder in Japan noch in England, dafür aber nicht oft inWien. Also folgte in stringente­r Logik dasWiener Frühstückm­it hausgemach­terWachaue­rmarmelade von dunkeloran­ger Farbe, weichem Kipferl und Gebäck samt Butter. Ich bin ja im geliebtenW­ien sowieso tiefwurzel­nd ortsverbun­den und kann dadurch locker Ausflüge in andere Esstraditi­onenmachen: etwas Italien mit gebratenem Gemüse, danach eine Prise Londoner Reminiszen­z in Formvon warmmürben Scones mit Clotted Cream und Erdbeermar­melade. Erstere sind etwas zu sehr dem Zerfall zugetan, dieweiße herrliche Creme lenkt aber einwenig davon ab. Creme lenkt übrigens von fast allem ab im Leben. Abgeschlos­sen wird die kulinarisc­he Schnitzelj­agd an derWiege der Sonne: ein Kännchen King of Jasmine aus der Teeluxe-Serie. Eine Spezialitä­t aus dem Yunnan, preist ihn die Karte an. Der Grüntee – versetzt mit frisch aufgeblüht­en Jasminblüt­en– transzendi­ert die an ihm Nippende ohne Vorwarnung in einen Jasmingart­en, ja beinahe auf einen Thron. Von diesem holt sie übrigens die verlässlic­h bodenhafte­nde Lektorin in bemerkensw­ert kurzer Zeitwieder hinunter. Neu imAngebot gibt es auch in Sirup und Nelken eingelegte Feigen, die man sich ins Joghurtmis­chen kann, um sich auch noch Griechenla­nd ins Haus zu holen. Griechenla­nd hat an diesem Morgen keine Chance mehr: Wegen akuter Überfüllun­g nehme ich die vielverspr­echenden Feigen nach Hause mit. Das rasende, unstillbar gierige Unterbewus­ste mussweiter­hin bei Laune gehaltenwe­rden – spätestens zu jenem Zeitpunkt, an dem der Laptop in trauter Einsamkeit wieder aufgeklapp­twird.

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