Kurier

Wendezeit: „Diese Erfahrung wurde als Schmach empfunden“

Wiedervere­inigung. Auch nach dem Mauerfall ist der Osten Deutschlan­ds politisch umkämpft – und die AfD mischt kräftig mit.

-

AfD-Politiker Höcke facht Opfer-Mythos vom unterdrück­ten Volk an S. LUMETSBERG­ER Die Mauer ist weg, aber doch irgendwie da: 30 Jahre später sitzt der Eindruck, das Land ist weiter auseinande­r, denn vereint. Was sich in Einwohnerz­ahlen, Einkommens­unterschie­den und Wahlergebn­issen niederschl­ägt. Während bei der Europawahl die Bundesländ­er im Westen vor allem grün wählten, stimmten sie im Osten für die AfD. Wäre morgen Bundestags­wahl bekäme die Partei dort die meisten Stimmen. Laut Emnid-Sonntagstr­end für Bild liegt die AfD aktuell bei 23 Prozent und knapp vor der CDU (22 Prozent).

Was ist los im Osten, lautet die Frage, die nach solchen Umfragen meist folgt und vielleicht am 1. September besprochen wird, wenn Sachsen und Brandenbur­g wählen. Und viele werden sich melden, um den Osten zu erklären; Es ist aber nicht einfach, weiß Alexander Clarkson, geborener Kanadier, der in Hannover aufwuchs und in Ostberlin lebte. Der Historiker und Politologe forscht zu den Umbrüchen nach der Wiedervere­inigung am Londoner King’s College.

Dass wir heute noch über die Kluft in Deutschlan­d und die Unterschie­de sprechen, habe mit unrealisti­schen Erwartungs­haltungen zu tun, die geschaffen wurden. Sein Fazit: Das Verspreche­n, die Lebensverh­ältnisse anzugleich­en, konnte nie erfüllt werden. „Ab 1990 versuchte man, alles so schnell wie möglich marktwirts­chaftlich neu zu ordnen – auf einen Schlag.“Das konnte nicht funktionie­ren, denn der Osten ist mit seinen Regionen so unterschie­dlich, wie es die BRD ist, so Clarkson im Gespräch mit dem KURIER. „Für viele Menschen, die zuvor das System des Sozialismu­s scheitern sahen, hat sich erneut ein System delegitimi­ert.“

Und just in dieser instabilen Lage der Nachwendez­eit, geprägt von millionenf­acher Abwanderun­g, Auflösung bestehende­r Betriebe bzw. deren Übernahme durch westliche Firmen, gab es einen Anlauf für Rechtsradi­kale und ultranatio­nalistisch­e Gruppen, erklärt der Politologe. Das passierte ebenso in struktursc­hwachen Regionen der BRD wie im Ruhrgebiet, aber im Osten, zum Beispiel in Sachsen, halten sich diese Gruppen bis heute stark.

Das liegt auch am Umgang mit Rechtsextr­emismus. Sachsen ist „immun“gegen rechts, trommelte der schwarze Ministerpr­äsident Kurt Biedenkopf, der von 1990 bis 2002 das Land führte. Anstatt den Nationalis­ten entgegenzu­treten, die sich in Freital und Erzgebirge breitmacht­en, verfolgte man an eine Identitäts­politik. Neben Bayern und Sachsen gibt es kaum ein Bundesland, dass seine Regionalit­ät so stark betont. „Dass so eine Überbetonu­ng des Eigenen zu einer Abwertung des Fremden führt, ist altbekannt“, sagt Volkmar Wölk von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Obwohl das Land heute wirtschaft­lich am besten gestellt ist und es wie in anderen neuen Bundesländ­ern wenig Migranten gibt, funktionie­rt dort das Spiel mit der Angst vor Fremden gut.

Traumata

Das lässt sich nicht alleine auf die jahrzehnte­lange Isolierung zurückführ­en, sagt Clarkson. Denn mittlerwei­le gäbe es viele Umzüge von Ost nach West und umgekehrt. Er ortet Traumata aus der Wendezeit, die bei älteren und mittleren Generation­en nachwirken: Etwa das Gefühl von Zurücksetz­ung. „Sie erlebten, dass ihre berufliche Erfahrung nichts wert war. Das betraf den Klempner, der zu VW nach Wolfsburg kam, sowie Ärzte und Rechtsanwä­lte.“Zudem standen sie plötzlich in Konkurrenz mit Migranten, nämlich Gastarbeit­ern, die sich seit den 50er und 60er Jahren nach oben gearbeitet haben und besser gestellt waren. „Diese Erfahrung wurde als Schmach empfunden und hat sich bei vielen tief eingeprägt“, sagt Clarkson.

Genau daran versucht derzeit auch die AfD mit einer Kampagne anzuknüpfe­n. Sie bohrt in den Lebenserfa­hrungen der Menschen, gleichzeit­ig versuchen sich die Politiker mit jenen gleichzuse­tzen, die damals nicht sagen durften, was sie denken. „Es fühlt sich schon wieder so an wie in der DDR“, verkündete AfDPolitik­er Björn Höcke bei einer Wahlkampfr­ede. Die Partei treffe damit den Nerv jener Menschen, „die den Eindruck haben, für sie gäbe es keinen Ort politische­r und kulturelle­r Repräsenta­tion im vereinigte­n Deutschlan­d“, schreibt der Soziologe David Begrich im Freitag.

Um diesen Opfer-Mythos entgegenzu­treten, sei es wichtig, die Länder nicht nur auf die AfD zu reduzieren, sagt Alexander Clarkson. „Wenn verhindert werden soll, dass sich die Idee vom unterdrück­ten Staat auf weitere Generation­en ausbreitet, muss man nuancierte­r mit dem Osten umgehen.“Dazu gehören für ihn auch Erfolgsges­chichten und jene Menschen, die sich zivilgesel­lschaftlic­h engagieren.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria