„Ohne Gerüche wird die Welt
Anosmie. Bei Verlust des Geruchssinns leidet nicht nur die Fähigkeit des Genusses. Auch die Partnerschaft, soziale Kontakte und Sexualität sind in Mitleidenschaft gezogen. Ein Betroffener erzählt.
Wenn Leute darüber reden, ob der Verlust des Seh- oder Hörsinns wohl der tragischere ist, kann Walter Kohl nur lächeln. „Der Geruchssinn wird völlig unterschätzt. Niemand kann sich vorstellen, wie es ist, in einer Welt ohne Gerüche zu leben“, betont er. Walter Kohl ist Anosmiker. Er hat seinen Geruchsinn durch einen Unfall verloren.
Der Mensch nimmt Reize aus seiner Umwelt auf unterschiedliche Art und Weise wahr. Durch das Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen sowie den Gleichgewichts- oder Zeitsinn erhält er Informationen, die dann zu einem subjektiven Gesamteindruck zusammengeführt werden. Als Primärsinne werden das Sehen und Hören bezeichnet. „Das Riechen ist ein sogenannter Fernsinn, der vor Dingen warnt, die ich nicht sehe, oder bei der Ernährung oder Partnerauswahl eine wesentliche Rolle spielt“, sagt Christian Quint, Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde. „Es ist ein ganz alter Sinn. Vorsprachliche Erinnerungen et a sind stark mit Gerüchen verknüpft, weil diese direkt in das limbische System gehen. So gesehen wird der Geruchssinn sicher unterbewertet.“
Wichtige Schaltzentrale Walter Kohl war mit dem Fahrrad unterwegs, als sich das Vorderrad aus der Gabel löste. Bei dem folgenschweren Sturz zog sich der Journalist und Autor Frakturen am gesamten Kopf zu: Stirn-, Joch- und Nasenbein, Schädelbasis, Hirnkapsel sowie Brauenbogen und Backenknochen waren betroffen. Der Unfall zog viele Operationen nach sich. Unter anderem musste eine Karbonfaserplastik im Stirnbein implantiert werden. „Durch den Knochen des oberen Teils der Nase und durch den unteren Teil der Stirn führt ein kleiner Kanal, wo der Geruchsnerv liegt. Und genau da wurde das Teil hingesetzt“, sagt Kohl. „Das ist natürlich dicht, es ist kein Kanal mehr vorhanden – daher ist mein Geruchsinn unwiederbringlich verloren.“Anfangs fiel es dem Journalisten nicht auf, dass er nichts mehr roch. „Ich war nur mit dem Überleben beschäftigt“, sagt er. „Über eine Woche nach der ersten Operation hat mir ein Arzt einen frisch gebrühten dampfenden Kaffee unter die Nase gehalten. Erst da war klar, dass ich keinen Geruch mehr wahrnehme.“
Einen Geruchsverlust hat jeder schon einmal erlebt. „72 Prozent aller Riechstörungen kommen von Verkühlungen“, so HNO-Arzt Christian Quint. „Die Riechschleimhaut schwillt an und lässt keine Luft mehr durch, wodurch keine Duftmoleküle im Gehirn ankommen.“In diesem Fall spricht man von einer Hy osmie – dem temporären oder verminderten Verlust des Geruchssinns. „Bei der Verlegung der Riechspalte durch Allergien, chronische Nebenhöhlenentzündungen oder Verkühlungen kann man das Grundproblem behandeln“, sagt Quint. „Bei einem sensorischen Riechverlust, wenn die Riechzellen zerstört sind, heilt sich der Körper in der Regel selbst. Es ist eine Besonderheit, dass auf der Riechschleimhaut ein Pool von Zellen nachwachsen kann.“Wird allerdings et a durch ein Schädel-Hirn-Trauma die Nervenverbindung von der Riechschleimhaut zum Gehirn unterbrochen, besteht keine Therapiechance. In diesem Fall sprich man von Anosmie, dem vollständigen Verlust des Geruchssinns.
Massive Einschränkung Walter Kohl erkannte bald, wie belastend die Diagnose ist. „Beim Essen werden 80 Prozent unseres Geschmacks über die Nase definiert, denn über den Mund nehmen wir nur die Grundkomponenten Süß, Sauer, Bitter, Salzig und Umami wahr“, sagt er. „Der Geruchsinn spricht ganz alte Gehirnregionen an, wo es um das Spüren, Fühlen, IntuitivDinge-Wahrnehmen geht –
Gefahren, aber auch Erotik und Anziehungskraft. Wird das lahmgelegt, wird man ein stumpferer und gefühlloserer Mensch.“
Sitz des sogenannten olfaktorischen Systems ist die Riechschleimhaut, die et a die Größe von zwei bis drei Briefmarken hat. In sie eingebettet sind et a sechs bis zehn Millionen Riechzellen, die mit feinen Härchen, den Zilien ausgestattet sind. Sie nehmen die Duftmoleküle, die über die Nase aufgenommen werden, über Riechnerven an das Gehirn weiter. Verarbeitet werden sie letztlich vom Bulbus Olfactorius, dem Riechkolben. Gerade was Aromen betrifft, spielt der Geruchssinn eine große Rolle: Beim Essen steigen die Düfte durch den Rachenraum von hinten in die Nase auf. Bei Anosmie werden sie von dort aber nicht mehr weitergeleitet oder aufgenommen. Somit bleibt der Genuss auf der Strecke. „Beiße ich heute in eine Leberkässemmel, habe ich das Gefühl, einen Klumpen Fett im Mund zu haben, der immer mehr wird“, erzählt Walter Kohl. „Essen muss ich anders zubereiten. Ich schaue, dass die Sachen unterschiedliche Aggregatszustände haben, kombiniere also et as Fluffiges mit etwas Knusprigem. Nur so passieren im Mund Dinge und ich erlebe beim Essen irgendet as.“
Weitreichende Folgen Auch der HNO-Arzt kennt das Problem. „Einige der Betroffenen nehmen extrem ab, weil ihnen nichts mehr schmeckt, andere hingegen zu, weil sie nur mehr Süßes essen“, so Quint. „Bei der Beurteilung von Nahrungsmitteln müssen sich Anosmiker helfen lassen, darüber hinaus entstehen bezüglich der eigenen Körperhygiene massive Verunsicherungen.“Mit weitreichenden Folgen: Personen, die ihren Geruchssinns verloren haben, sind oft sozial isoliert. Viele leiden deswegen auch unter Depressionen. „Alle Betroffenen, die ich kennen lernte, haben anfangs den Geruchsverlust als geringes Problem eingeschätzt – aber sie merkten bald, dass er ein wesentlicher Faktor unserer menschlichen Existenz ist“, fasst Walter Kohl zusammen. „Wir wählen unsere Freunde und Sexualpartner unbewusst nach dem Geruch aus. Ich denke mir oft, ob ich jemanden noch sympathisch finden würde, wenn ich wüsste, wie er riecht … dann wird mir bewusst, dass ich doch behindert bin.“
Rätselhafte Ursache Dazu gesellt sich ein Phänomen, das Anosmiker richtiggehend quälen kann: die sogenannte Phantosmia. Es handelt sich dabei um eine Geruchshalluzination. Bei den Betroffenen tritt plötzlich ein olfaktorisches Erlebnis ein, das nicht existiert. „Plötzlich riecht man et as. Im Gehirn ist es da, in Realität aber nicht. Meistens sind es unangenehme Dinge wie Erbrochenes oder Kot“, erzählt