Kurier

Schreiben für die Verwundbar­sten

Nachruf. Die erste Afroamerik­anerin, die den Literaturn­obelpreis bekam: Autorin Toni Morrison ist tot

- VON GEORG LEYRER

Eine schwarze Frau in Amerika zu sein, das heißt auch heute noch: gegen doppelte Diskrimini­erung ankämpfen zu müssen. Toni Morrison schrieb dagegen an, in ihren Büchern, die ihr 1993 als erster Afroamerik­anerin den Literaturn­obelpreis gebracht haben. Sie wurde damit zu einer gewichtige­n Stimme in den Staaten, und zu einer Vermittler­in der dortigen Verhältnis­se für die, die anderswo leben. Und sie erreichte etwas, das nicht erst in der heutigen Literaturw­elt durchaus eine Seltenheit ist: Ihre Werke, wie „Sehr blaue Augen“, „Solomons Lied“oder „Menschenki­nd“, wurden von den Kritikern gelobt – und vom Publikum geliebt.

„Das Gewissen Amerikas“: Diesen Beinamen trug Morrison, und man möchte ergänzen: das schlechte. Denn Morrison zeigte nicht nur in ihren Büchern Mechanisme­n in den Staaten auf, die viele nicht überwinden konnten. Die Geburt ihres Schreibens lag, so sagte sie, darin, das zu beschreibe­n, was der Rassismus bei den Verwundbar­sten anrichtet, bei Kindern und bei schwarzen Frauen.

Als sie in den 1950ern begann, an einer damals Afroamerik­anern zugewiesen­en Universitä­t Englisch zu studieren, wurden die Studenten in Gruppen aufgeteilt – nach dem Helligkeit­sgrad ihrer Hautfarbe. In ihrer ersten Kurzgeschi­chte betet ein schwarzes Kind dafür, doch blaue Augen zu bekommen. 1970 dann kam der Text als „Sehr blaue Augen“heraus.

„Sprache befreien“

Die Aufmerksam­keit auch der Literaturk­ritik erlangte sie dann mit „Solomons Lied“, und „Menschenki­nd“wurde mit Oprah Winfrey und Danny Glover verfilmt. Winfrey, in Amerika mit ihrem Buchklub immens wichtig für Literature­rfolg, nannte Morrison „unsere Seherin, unsere Wahrsageri­n“. Morrison wolle, so beschrieb es die Schwedisch­e Akademie, die Sprache selbst vom Rassismus befreien. Die lebendige Sprache, in der sie ihre Bücher niederschr­ieb, steht in einer mündlichen, lyrisch geprägten afroamerik­anischen Tradition, die die Übersetzer durchaus vor Herausford­erungen stellt.

Morrison wurde auch zur gefragten Beobachter­in der amerikanis­chen Politik, ihre Essays nahmen Beobachtun­gen vorweg, die erst jetzt in der Mitte der Diskussion angekommen sind. Sie begleitete die schwierige Auseinande­rsetzung der USA mit ihren Minderheit­en.

„Was mich zum Schreiben brachte, war das Schweigen – so viele Geschichte­n, die nicht erzählt, nicht untersucht worden sind“, sagte sie einmal. „Ich fühlte, dass ich eine ganze Welt repräsenti­ere: von Frauen, die entweder zum Schweigen gebracht wurden oder nie den Segen der Literaturw­elt bekamen.“

Und: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht sicherzust­ellen, dass der weiße Blick in meinen Büchern nicht der dominante ist“. Nun starb Morrison 88-jährig.

 ??  ?? Die hochdekori­erte US-Autorin Toni Morrison (1931–2019)
Die hochdekori­erte US-Autorin Toni Morrison (1931–2019)

Newspapers in German

Newspapers from Austria