Kurier

Sie ist auf ihren Füßen gelandet

Eine junge Frau stürzte vier Stockwerke in die Tiefe. Wie durch ein Wunder hat Jenny überlebt

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YVONNE WIDLER

Es waren 21,5 Meter, die sie aus dem Fenster ihrer Wohnung in die Tiefe gestürzt ist. Erinnern kann sie sich an nichts mehr. Denn Jenny wurde allem Anschein nach Opfer von K.O.-Tropfen, die ihr in einem Getränk verabreich­t wurden. Sie sei eine aus zehn Millionen, die so einen katastroph­alen Unfall auf diese Weise überstande­n hat, sagte ein Polizist am Krankenbet­t zu ihr.

Ob es ihr schwerfäll­t, über den 9. Februar 2019 zu reden? „Ich habe diese Ereignisse schon öfter reflektier­t, das macht es sicher etwas einfacher.“Jenny, ihre Mutter, ihre Schwester und eine Freundin wollten an diesem Abend feiern gehen. Dass sie schließlic­h in diesem Club in der Nähe des Gürtels gelandet sind, nennt sie heute „Schicksal“.

Nach einigen Getränken ändert sich Jennys Verhalten plötzlich radikal. Die Mutter beobachtet ihre so befremdlic­h enthemmte Tochter. Kann sie so schnell dermaßen stark betrunken sein? Die Situation eskaliert.

Jenny wird aggressiv, schmeißt Getränke vom Tisch und brüllt ihre Mutter an. Sie läuft wütend aus dem Lokal und fährt mit dem Taxi nach Hause. Mutter und Schwester sind ratlos und sehr besorgt. Zuhause angekommen möchte Jenny aus der Küche Wasser holen, da sie aber so stark beeinträch­tigt war, verwechsel­t sie durch ihre Halluzinat­ionen die Küchentüre mit dem offenstehe­nden Fenster. Sie stürzt 21, 5 Meter in die Tiefe.

Urinbefund ist wichtig

Wolfgang Bicker, der Leiter des Forensisch-Toxikologi­schen Instituts (FTC) in Wien, betont, dass es schon lange nicht mehr „die speziellen“K.O.-Tropfen gibt. „Weit mehr als 100 Substanzen verfügen über Eigenschaf­ten, die sich ein Täter zu Nutze machen kann.“GHB (Gamma-Hydroxybut­tersäure) ist die bekanntest­e Substanz. Das Mittel ist in Kombinatio­n mit Alkohol, was oft der Fall ist, in zu hoher Dosierung sogar lebensgefä­hrlich.

Die Opfer von K.O-Mittel beschreibe­n die Zustände immer ähnlich: Enthemmung, anfänglich­e Euphorie, Schwindel, starke Verhaltens­änderung, Benommenhe­it, Übelkeit, optische Wahrnehmun­gsverschie­bungen, Filmriss. Das große Problem: Das Mittel wird vom Körper so extrem schnell abgebaut, dass ein Nachweis selten möglich ist. Es sei enorm wichtig, innerhalb der ersten zwölf Stunden einen Urintest zu machen, so Bicker weiter. Darin könnte man GHB-Verabreich­ung noch besser und länger nachweisen als bei einem Bluttest.

Jenny ist nach dem Sturz sofort ins Koma gefallen. Die Ärzte haben sich zuerst um ihre lebensgefä­hrlichen inneren Verletzung­en gekümmert, daher wurde kein Urinbefund gemacht. Jenny lag vier Tage im Koma und zwei Wochen im künstliche­n Tiefschlaf. Am rechten Fuß ein offener Bruch. Die Brüche im linken Fuß waren noch schlimmer. Ein externer Fixateur wurde an den Knochen angeschrau­bt, damit die Frakturen komplett ruhiggeste­llt werden. Ein gebrochene­r Unterkiefe­r, ein gebrochene­s Schlüsselb­ein und sieben gebrochene Rippen erlitt sie ebenso.

Lebensbedr­ohlich waren Jennys innere Verletzung­en. Durch den Sturz ist die Leber zerrissen, Hämatome an der Lunge und der Niere haben sich gebildet, zahlreiche innere Blutungen. Insgesamt wurde die junge Frau 14 Mal operiert und verbrachte 3,5 Monate im Krankenhau­s.

Ein Kriminalbe­amter besuchte Jenny im Spital. „Es wurde dem Opfer mitgeteilt, dass sich die Ermittlung­en und die Beweisführ­ung bei K.O.-Tropfen schwierig gestalten könnten, jedoch wird alles zur Aufklärung versucht“, so die Polizei zum Fall. „Ich dachte, das wird die beste Zeit meines Lebens, stattdesse­n ist es die schlimmste. Aber ich habe dadurch gelernt, dass ich alles überstehen kann, egal was kommt. Ich habe vor nichts mehr Angst.“

Kraft tanken

Jenny möchte mit ihrer Geschichte anderen Frauen Mut machen. „Mir ist das nicht passiert, damit ich jetzt ruhig bin.“Jenny wurde nicht vergewalti­gt. Jenny hat eine andere katastroph­ale Erfahrung machen müssen. Derzeit ist sie auf einem Reha-Aufenthalt. Es sei anstrengen­d, aber sie ist optimistis­ch, in Zukunft wieder gehen zu können. Jenny hatte unfassbare­s Glück. Sie ist auf ihren Füßen gelandet und wurde sofort medizinisc­h versorgt.

Sie nutzt die Reha auch, um Kraft zu tanken, denn ihr steht ein schwierige­r Kampf bevor. Ein Kampf gegen ein System, das für solche Opfer keine Lösungen oder gar ausreichen­de Sensibilit­ät bereitstel­lt. Sie will nach der Reha Anzeige erstatten. “Ich denke, dann fühle ich mich stark genug.“

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Jenny ist 29 Jahre alt und hat darum gebeten, in der Zeitung einfach nur „Jenny“genannt zu werden

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