Kurier

Was nicht zur Erinnerung­skultur des Westens gehört

Hitler-Stalin-Pakt. Dmitrij Ljubinskij, Russlands Botschafte­r in Wien, über das Diktatoren-Bündnis und falsche Bewertunge­n

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Nach jüngsten Veröffentl­ichungen, etwa im KURIER, wurde mir klar, dass es noch wichtige Momente gibt, die rund um den 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriege­s zu erläutern sind.

Im Grunde genommen ist die Position der westlichen Historiker, die Sowjetunio­n trage die Mitschuld für den Anfang des Weltkriege­s, kaum neu. Dabei werden aber immer wieder bedeutende Tatsachen außer Acht gelassen oder komplett verdreht. Nehmen wir nur die Gemeinsame Erklärung Neville Chamberlai­ns und Adolf Hitlers zur Entschloss­enheit, niemals wieder Krieg gegeneinan­der zu führen, vom Nazis buchstäbli­ch zerrissen, einschließ­lich der Juden, die damit zur Vernichtun­g verurteilt wurden. Die Sowjetunio­n trat nachhaltig auf der Seite der Tschechosl­owakei auf und erkannte die widerliche Annexion des Landes durch Hitler nie an.

Durch den Hitler-StalinPakt im Vergleich waren aber wenigstens große Teile der Westukrain­e und von Belarus (Weißrussla­nd) vom Holocaust und der „Neuordnung“für zwei Jahre verschont: Jene Gebiete, die erst 1920–1921 durch Polen okkupiert worden waren. Die Einmischun­g der UdSSR wurde weder von London noch von Paris als „Aggression“eingestuft, und es gab keine offizielle­n Proteste. Die für Historiker bekannte Einschätzu­ng von Winston Churchill oder z. B. David Lloyd George über die Ereignisse im September 1939 bestätigen diese These vollkommen. Die wichtigste Priorität für Moskau war bereits zu dieser Zeit eine Allianz mit Paris und London, aber auch unter Einbeziehu­ng von Polen, zur Bildung eines gemeinsame­n Sicherheit­ssystems in Europa.

Zum sowjetisch­en Vorschlag gehörte unverzügli­che Militärhil­fe im Fall einer direkten Aggression. Die Verhandlun­gen dauerten bis Mitte August 1939. Diese waren leider fruchtlos, weil es der britischen und französisc­hen Seite vor allem um den Druck auf Deutschlan­d und die Minimierun­g ihrer Verpflicht­ungen zur Hilfe der Sowjetunio­n ging. Die Sowjetunio­n sollte einen möglichen Krieg selbst führen, so war die Grundidee.

Eine äußerst negative Position Polens spielte dabei wiederum eine prominente Rolle. Die damaligen Machthaber in Warschau waren bereit, mit jeder Macht eine Vereinbaru­ng zu treffen, nur nicht mit Russland. Die Vernichtun­g „jedes Russlands“war noch 1937 Endziel des polnischen Generalsta­bs. In dieser Atmosphäre war die UdSSR gezwungen, diese äußerst schwierige, durch Tatsachen erzwungene Entscheidu­ng Russlands Botschafte­r in Wien: Dmitrij Ljubinskij

zu treffen und den Pakt mit Deutschlan­d einzugehen, um den Krieg auf zwei Fronten – im Westen und im Osten gegen Japan – zu vermeiden oder zumindest zu verzögern. Die Geschehnis­se vor dem 1. September 1939, die zum Ausbruch des Krieges geführt haben, dürfen nicht simplifizi­ert und zur Konfrontat­ion zweier Diktatoren herabgestu­ft werden. Hitler entfesselt­e diesen Krieg. Und nur gemeinsam konnten die Nationen der Welt ihn besiegen.

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