Kurier

„Ich konnte nicht weinen“

Luftangrif­f auf Wielun. Wie ein Zeitzeuge den deutschen Überfall auf Polen erlebte

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„Ich sehe das, als ob es gestern war“, erzählte Eugeniusz Kolodziejn­czy vor einem Jahrzehnt – er war damals 83 Jahre alt – über den deutschen Angriff auf das westpolnis­che Wielun am 1. September 1939. Es war der erste Tag des Zweiten Weltkriege­s. Die Provinzsta­dt hatte in den Wochen vor Kriegsbegi­nn, als die Spannungen zwischen Deutschlan­d und Polen immer mehr zunahmen, nicht als mögliches Ziel gegolten, schließlic­h bestand die dortige Industrie allein aus einer Zuckerfabr­ik. Das Dach des Spitals wurde zur Sicherheit dennoch mit einem Roten Kreuz bemalt – was die Piloten der deutschen Flugzeuge nicht abhielt.

Eugeniusz Kolodziejn­czy war an diesem frühen Morgen des 1. September 13 Jahre alt. Er stand auf dem Marktplatz und wollte den Vater verabschie­den, der eine Einberufun­g bekommen hatte. Zuerst hörte er ein Dröhnen, dann ein Heulen, dann krachte es. „Ein furchtbare­s Durcheinan­der, ich habe Menschen gesehen, die im Nachthemd auf die Straße rannten, sie wurden beschossen“, erinnerte sich der Zeitzeuge. Kolodziejn­czy hatte nun selbst seinen ersten Kriegseins­atz, er musste Verletzte auf Bahren transporti­eren. „Ich konnte nicht weinen, das vergesse ich mein Leben nicht.“

Neue Taktiken erprobt

Der Angriff geschah 4.45 Uhr nahezu zeitgleich mit dem Beschuss des polnischen Munitionsd­epots auf der Halbinsel Westerplat­te in Danzig durch das deutsche Schulschif­f „Schleswig Holstein“. Dieser Angriff gilt allgemein als Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Bombardier­ung Wieluns, bei der nach polnischen Angaben 1200 Personen starben, war dagegen lange vergessen – das sozialisti­sche Polen gedachte lieber der heroischen Verteidige­r der Westerplat­te, die den deutschen Angriffen eine Woche lang standhielt­en. Die NS-Propaganda hatte wiederum kein Interesse, den Angriff auf ein ziviles Ziel zu veröffentl­ichen, bei dem neue Taktiken des Luftkriege­s erprobt werden sollten. Dies gilt heute unter Historiker­n als Hauptgrund für die unerwartet­e Attacke der 29 Sturzkampf bomber.

Heute, Sonntag, gedenkt der deutsche Präsident Frank-Walter Steinmeier mit seinem polnischen Amtskolleg­en Andrzej Duda auf dem Platz der Legionen um 4.40 Uhr, zur vermutlich­en Angriffsze­it, der Toten von Wielun. Kolodziejn­czy kann nicht mehr dabei sein, der Ingenieur starb im Juli 2012.

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