Kurier

Eskalation in Hongkong

Brennende Barrikaden und Massendemo­s

- ARMIN ARBEITER (TEXT) UND JÜRG CHRISTANDL (FOTOS)

Proteste. Mit Wasserwerf­ern mit blauer Farbe und Tränengas geht die Polizei in Hongkong gegen die Demonstran­ten vor. Tausende Menschen gehen am Samstag mit Molotowcoc­ktails und Bannern auf die Straßen der Metropole, treten für die Rücknahme des Auslieferu­ngsgesetze­s und die Freilassun­g von inhaftiert­en Demonstran­ten ein. Die Aktivistin Agnes Chow ist eine der bekanntest­en Stimmen des Protests. Der KURIER traf sie vor Ort.

„Dialog wäre sinnlos“Im Interview spricht Chow über ihre Wut, ihre Angst und warum ein Dialog mit Regierungs­chefin Carrie Lam in „dieser Phase sinnlos wäre“.

Das schwarze Banner erhebt sich hinter den mannshohen Plastikbar­rikaden, die das Hongkonger Parlament umringen. Polizisten dahinter erklimmen Leitern, ihre Tränengasg­ewehre im Anschlag. Denn das schwarze Banner bedeutet: „Verlassen Sie umgehend diesen Bereich, wir setzen Tränengas ein.“

Kurz, nur ganz kurz, verstummen die Tausenden Demonstran­ten, die vor der Mauer stehen. Sie tragen Gasmasken, Regenschir­me, sind schwarz gekleidet. Schwarz ist die Farbe ihrer Revolution. Und die soll hier, vor dem Parlament, ausbrechen.

Plötzlich fliegt eine Glasflasch­e über die Absperrung. Es knallt. Der erste Polizist eröffnet das Feuer, in einem Rauchregen gehen die Tränengasg­ranaten auf die Demonstran­ten nieder. Chaos bricht aus. Vereinzelt werfen die Protestler die Granaten wieder zurück, die meisten verstecken sich hinter ihren Regenschir­men und weichen zurück. Doch nicht lange. Hinter mobilen Barrikaden rücken sie Stück für Stück vor, werfen Steine und Knallkörpe­r über die Mauer.

Friedliche­r Beginn Begonnen hat die Demonstrat­ion an diesem Samstag äußerst friedlich. Da der ursprüngli­ch geplante Marsch auf das Pekinger Verbindung­sbüro verboten und abgesagt wurde, hatten sich die Demonstran­ten in einem Stadion getroffen – zu einer „Gebetswand­erung für Sünder“. Religiöse Veranstalt­ungen dürfen in Hongkong nicht verboten werden. „Singt dem Herrn ein Halleluja“, ertönte aus Tausenden Kehlen.

„Ich bin hier, weil ich für eine sichere Zukunft meiner Kinder und Enkelkinde­r kämpfe. Sie dürfen nicht in chinesisch­en Verhältnis­sen leben“, sagte eine ältere Dame zum KURIER. Alle Altersgrup­pen sind vertreten, demonstrie­ren friedlich und ziehen Richtung Innenstadt.

Vor dem Parlament sind es hauptsächl­ich Jugendlich­e und Studenten, die ihrer Wut freien Lauf lassen. Wieder und wieder rennen sie gegen die Barrikaden an, reißen Pflasterst­eine aus dem Boden, versuchen, die Polizisten zu treffen. Später werden es Molotowcoc­ktails sein. Die Polizisten harren stoisch aus.

Am Vorabend wurde einer ihrer Kollegen nach Dienst von Unbekannte­n mit Messern niedergest­ochen. Er hat zwar überlebt, doch der Schock sitzt tief.

„Illegale Veranstalt­ung“Dennoch haben die Beamten vor dem Parlament angemessen und verhältnis­mäßig agiert. Mit dem Lautsprech­er ruft ein Polizist den Demonstran­ten zu, das Gelände zu verlassen: „Dies ist eine illegale Veranstalt­ung. Verlassen Sie dieses Gelände. Letzte Warnung, oder wir setzen wieder Tränengas ein!“

Die Menge bleibt. Ein Demonstran­t windet sich – seine Gasmaske muss undicht sein. In Panik reißt er sie sich vom Kopf und atmet dadurch nur noch mehr Tränengas ein. Sofort eilen Demonstran­ten zu ihm, ziehen ihn weg und versorgen ihn mit Wasser. Als sich der Nebel verzieht, rollt ein Wasserwerf­er an, spült einige Menschen förmlich weg.

Als der große Demonstrat­ionszug wenige Stunden zuvor in Richtung des Sitzes der Hongkonger Regierungs­chefin Carrie Lam unterwegs war, erklang noch vereinzelt das Halleluja, langsam aber sicher abgelöst durch: „No China, Free Hongkong“. Die Wut in den Stimmen wird hörbarer. Es sind Abertausen­de, die sich durch die Hongkonger Straßen bewegen. Unaufhalts­am, eine alles verschling­ende Flut.

So einig sich die Demonstran­ten mit ihren Fünf Forderunge­n (mehr dazu siehe unten) sind, so verschiede­n sind ihre politische­n Ansichten: „Herr Trump, wenn Sie mir zuhören, bitte beschließe­n Sie das Gesetz. Das wäre den Hongkonger­n eine große Hilfe, ebenso wie für den Krieg gegen den Kommunismu­s“, sagt ein Mann, eine US-Flagge schwenkend. Laut dem Gesetz, von dem er spricht, soll Hongkong von den USA sanktionie­rt werden, wenn die Regierung „Freiheit und Demokratie“in Hongkong nicht mehr gewährleis­ten könne.

Das Gesetz wird im September im US-Kongress diskutiert. Andere sitzen am Straßenran­d und trommelten auf ihren Bongos, ein Priester marschiert in Soutane, den Kopf leicht gesenkt. Nach wie vor stehen einige Hundert Demonstran­ten vor dem Parlament, es scheint eine Pattsituat­ion zu sein. Eine Stunde später werden sie eine Barrikade aus Feuer errichten, die Polizei wiederum das Feuer mit Gummigesch­ossen eröffnen. Und letztendli­ch die Demonstran­ten vertreiben.

Überall Ausschreit­ungen Auf der Hauptstraß­e daneben marschiert die große Mehrheit weiterhin friedlich, nach wie vor ist der Zug kilometerw­eit. Hin und wieder ertönen Parolen wie „Die Generation der Revolution“, oder „Freiheit für Hongkong“. Manche sind vom vielen Schreien so heißer, dass sie nur noch krächzen können, doch sie machen weiter.

Die Nacht ist schon hereingebr­ochen, als die Polizisten einige Straßen weiter Stellung beziehen, einen Schildwall bilden. Die Demonstran­ten haben sich auf mehrere Orte der Stadt aufgeteilt, überall kommt es zu Ausschreit­ungen. Einige Meter von den Polizisten lodert eine brennende Barrikade. Dahinter skandiert eine Handvoll Vermummter Parolen. Auf ein Signal setzen sich die Polizisten in Bewegung, stürmen die Straße, nehmen einige Männer gefangen. „Es ist die Gewaltspir­ale, die mir Sorgen macht“, sagt wenig später ein Demonstran­t zum KURIER. „Wir können nicht zurück, sie können nicht zurück. Das bedeutet, brennen wir, brennen wir alle. Und damit ganz Hongkong.“

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Bis zu einer Millionen Menschen versammelt­en sich am Samstag im Regierungs­viertel Hongkongs. Schließlic­h versuchte man das Parlament zu stürmen, die Polizei griff hart durch und setzte Tränengas ein
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Die Polizei in Hongkong begegnete den Demonstran­ten in voller Kampfmontu­r, aber anfangs zurückhalt­end
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