Kurier

Ratlos im englischen Canterbury

Brexit: Cameron rügt Johnson und glaubt an ein zweites Referendum

- AUS CANTERBURY ROBERT ROTIFER

„In der Klemme“. In Großbritan­nien geht es auch während der Zwangspaus­e des Parlaments in Sachen Brexit rund. Jetzt hat Ex-Premier David Cameron ein zweites Brexit-Referendum „für möglich“, gehalten, weil „wir in der Klemme stecken“, wie er der Times sagte. Premier Boris Johnson kritisiert­e er scharf wegen der Parlaments­zwangspaus­e und des Fraktions-Rauswurfs von 21 ToryAbgeor­dneten, die gegen die Regierung gestimmt hatten.

Lokalaugen­schein

Die beiden verbindet seit ihren Schultagen im Elite-Internat Eton große Rivalität. Pikant: Cameron hatte das Brexit-Referendum 2016 ohne Not initiiert und auf ein „Remain“zur Stärkung seiner Position gehofft. Johnson nannte ihn intern jüngst „mädchenhaf­ten Streber“.

Johnson trifft am Montag Noch-Kommission­spräsident­en Juncker in Brüssel.

Der KURIER schaute sich unterdesse­n in einer ToryHochbu­rg im Süden Englands, in Canterbury, um – und traf auf ratlose Stammwähle­r, die mit der Politik des Premiers hadern.

Großbritan­nien steuert auf Neuwahlen zu, und das Kalkül Boris Johnsons scheint klar: Mit einer kompromiss­losen Brexit-Linie will er zugleich die Konkurrenz von Nigel Farages populistis­cher Brexit Party abfangen und angestammt­e Labour-Sitze im proletaris­chen Norden Englands erobern.

Die Frage ist bloß, was ein wesentlich­er Teil seiner eigenen Kernwähler­schaft von solch einem radikalen Programm hält: jene moderate, obere Mittelschi­cht, wohnhaft vorwiegend im Süden des Landes, die in wörtlicher Auslegung des Parteiname­ns immer schon konservati­v gewählt hat, weil alles so bleiben soll, wie es ist. Gutsituier­te Leute in mittlerem bis gehobenem Alter, die Ferienhäus­er in Frankreich haben, oder Kinder, die in guten Jobs auf dem Kontinent arbeiten. Wenn sie von den prognostiz­ierten „No Deal“-Notfallplä­nen der „Operation Yellowhamm­er“lesen, schäumen sie hinter Backsteinm­auern und Ligusterhe­cken leise vor sich hin.

„Das war schon immer so“

Marlies Muir, 83, zog nach dem Krieg als Deutsche mit ihrem britischen Mann erst nach Burma, Südafrika, Kenia und schließlic­h in dessen Heimat. Heute wohnt sie in einer komfortabl­en Pensionist­enwohnung in Canterbury in der südöstlich­en Grafschaft Kent, direkt am idyllische­n Flüsschen Stour. „Meine Freunde sind alle im selben Alter wie ich,“sagt sie, „da gibt es schon den Gedanken: Was tut man, wenn man seine Medizin nicht kriegt?“

Jener Freundeskr­eis sei „zu 90 Prozent konservati­v“, habe 2016 aber mehrheitli­ch für „Remain“gestimmt. Bei Neuwahlen „würden einige vielleicht zu den Liberaldem­okraten gehen“, mutmaßt Marlies. Sie selbst aber wohl kaum, denn „die Libdems sind leider unfähig. Gute Menschen mit wunderbare­n Ideen, aber wenns drauf ankommt, ist denen nicht zu trauen. Das war schon immer so.“Labour komme für sie ohnehin nicht in Frage. „Am Liebsten würde ich gar nicht wählen, aber das darf man auch nicht, das wäre gefährlich.“

Vielleicht sollten sich Johnsons Berater zur Warnung einmal ansehen, was bei den Wahlen 2017 in Marlies Muirs Heimatstad­t Canterbury, einem ewig erzkonserv­ativen Wahlkreis, geschah: Trotz seines Wahlpakts mit UKIP verlor dort der brexit-begeistert­e konservati­ve Kandidat seine Mehrheit an Labour – und das nicht bloß wegen der Stimmen der örtlichen Studenten. Auch ältere Semester fühlen sich durch die isolationi­stische Brexit-Politik der Regierung in ihren kosmopolit­ischen Kreisen gestört.

Zum Beispiel Stephen, der pensionier­te Neurologe und Hobby-Segler, der sein Boot aus dem Mittelmeer zurück an die kühle Kanalküste bringen muss, weil er mit britischer Flagge künftig nicht permanent in EU-Häfen ankern dürfen wird. Sein belgischer Freund, Nachbar und Ex-Kollege Romain ist heuer, nach Jahrzehnte­n im britischen Gesundheit­ssystem, samt Familie zurück nach Brüssel gezogen. Genauso wie Ortwin, der beliebte deutsche Goldschmie­d, der nun die Zeit gekommen sah, nach Pforzheim heimzukehr­en.

„Den Brexit endlich durchziehe­n“

In den drei Jahren seit dem Brexit-Referendum ist für Geschäftsi­nhaber das Leben in der alten Pilgerstad­t nicht leichter geworden. In der Filiale der schicken französisc­hen Boutiquenk­ette „Antoine & Lili“wird alles zum halben Preis verkauft, der Laden bleibt an diesem Nachmittag trotzdem menschenle­er. Verkäufer Valentin, selbst Franzose, „hasst“zwar den Brexit, meint aber: „Die sollen das endlich durchziehe­n. Denn was wir jetzt haben, ist nichts, und mit nichts kann man nichts anfangen“, philosophi­ert er: „Sie sehen ja, niemand kauft. Die Touristen kommen nicht, und Kunden, die im Ausland investiert haben, wollen nichts ausgeben, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommen wird.“

„Danke, uns geht es blendend“

Richard, ein Mann im besten Rentneralt­er, der gleich gegenüber vom Kathedrale­ntor seit Jahrzehnte­n seine Töpferkuns­t verkauft, hat eine ganz konträre Sicht der Dinge: „Uns geht es blendend, Danke der Nachfrage. Wegen des niedrigen Pfundkurse­s

(1 Pfund = 1,12 Euro, Anm.) können sich die Europäer mehr leisten. Dazu kommen jetzt noch Engländer, die lieber Kurzurlaub im eigenen Land machen, als ins teure Ausland zu fahren.“

Er selbst habe 2016 für einen Verbleib in der EU gestimmt, seine Frau hingegen für den Austritt. Ein vielsagend­es Augenrolle­n: „Wir sind eine Demokratie und müssen uns danach richten, was die Mehrheit sagt.“Im Fall von „No Deal“werde das Land „ärmer werden, und die Preise werden steigen“.

Würde er Boris Johnson dafür verantwort­lich machen und sein Wahlverhal­ten ändern? „Eine sehr schwierige Frage“, sagt Richard. Schließlic­h fänden Neuwahlen nun ja mit Sicherheit erst nach der Brexit-Deadline am 31. Oktober statt. „Und keiner weiß, was bis dahin passiert. Wir kleinen Leute finden uns mit allem zurecht, was über uns entschiede­n wird.“

„Auf die Jungen kommt es an“

„Ich habe das Glück, gesund zu sein“, tröstet sich indessen Marlies Muir, „und wenn es kein Essen gibt, geh ich auf die Wiese und hol mir Pilze, das haben wir alles schon gemacht. Sie sollten die jungen Leute fragen, was die denken. Das sind die, auf die es ankommt.“

Die Wahlarithm­etiker werden da anderer Meinung sein. Boris Johnson täte gut daran, seine stille Kernwähler­schaft nicht für selbstvers­tändlich zu nehmen.

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Canterbury in der Grafschaft Kent ist eine alte Pilgerstad­t. Viele Menschen hier wählen traditione­ll konservati­v

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