Kurier

Das System an seinen Grenzen

Kinderpsyc­hiatrie. Mit elf Jahren sagt er, er will sterben. Die Geschichte einer Adoption und einer hilflosen Familie

- ILLUSTRATI­ONEN: PILAR ORTEGA

YVONNE WIDLER

Es war Abend, als der Anruf kam: „Wir haben ein Kind für euch. Er heißt Matayo* und ist acht Monate alt!“. Jetzt schon? War das nicht viel zu früh? Wir haben unseren Akt doch erst vor sechs Wochen weggeschic­kt. Und ich war noch mitten im Medizinstu­dium.

Nora Freilechne­r führt eine Art Tagebuch, in das sie all die schönen, aber auch die schrecklic­hen Erinnerung­en notiert. Dass sie und ihr Mann Thomas das kleine Adoptiv-Baby aus Äthiopien bekommen haben, war definitiv eine schöne.

14 Tage später durften wir ihn im Kinderheim Kidane Meheret in Addis Abeba in die Arme schließen. Er schaute nur mit Angst geweiteten Augen und wirkte erstarrt. Ich merkte das in meiner Aufregung nicht und war nur froh, dass er nicht weinte.

14 Jahre später müssen die Freilechne­rs alle scharfen Messer in der Wohnung verstecken. Die Eingangstü­re ist immer von innen verriegelt. Am Kinderzimm­erfenster hängt ein Schloss. Die Schlüssel dafür trägt Nora Freilechne­r an ihrem Körper, ganz nah bei sich. Ihr Sohn soll sie nämlich nicht in die Finger bekommen. Zu seinem eigenen Schutz. Nora Freilechne­r Mutter, selbst als Ärztin tätig

Als Baby gab Matayo lange Zeit kein Geräusch von sich. Im Nachhinein betrachtet müsse sich die Adoption für ihn wie eine Entführung angefühlt haben, sagt die Mutter heute. Die Jahre vergingen, und langsam taute der Bub in seiner neuen Welt auf, fand sich gut zurecht. Er spielte American Football, weil er aufgrund seiner körperlich­en Statur wie gemacht dafür scheint. Nach der Volksschul­e sollte er in eine private Mittelschu­le wechseln. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde er dort zum Mobbing-Opfer. Matayo begann im Alter von elf Jahren davon zu reden, dass er sterben möchte. „Daraufhin kam es zu Hause erstmals zur Eskalation. Matayo ging zum Fenster und deutete an, hinaus zu springen“, erzählt die Mutter.

Der jüngste Patient Matayo besuchte von da an eine Psychologi­n. Sie ging vorerst davon aus, dass die suizidalen Gedanken ihren Ursprung im Mobbing hätten. Doch dann wurde sein Verhalten immer extremer. Matayo sprach immer öfter vom Tod. Nora Freilechne­r erwischte ihn einmal, als er sich in der Badewanne ertränken wollte. Auch im Tablettens­chrank wühlte er ständig und schluckte, was er gerade fand. Die Fenster der Wohnung waren zu diesem ZeitBereic­h punkt schon durchgehen­d versperrt, tägliche Rangeleien mit der Mutter und dem Vater um den Schlüssel waren die Folge. Trotz aller Maßnahmen gelang es dem Jungen immer wieder wegzulaufe­n.

Meist brachte die Polizei ihn zurück. Einmal wollte er aus dem fahrenden Auto springen. Ein anderes Mal wollte er sich die Haare anzünden. Matayos Verhalten wurde immer aggressive­r. Er wurde schließlic­h auf der Kinderpsyc­hiatrie des AKH betreut. Sowohl ambulant und aufgrund weiterer Eskalation­en auch stationär. „Er war mit elf Jahren der jüngste Patient dort“, erzählt seine Mutter.

Die ersten Tage und Wochen auf der Station sei es ihm derart schlecht gegangen, dass er mit Medikament­en stark sediert wurde. Obwohl die Freilechne­rs ihn jeden Tag besuchten, habe er nicht viel davon mitbekomme­n. „Der Arzt erklärte uns, dass diese sedierende Therapie im besten Fall zu einem Reset im Gehirn führt. Die Medikament­e haben ihn zum lebenden Zombie gemacht.“14 Monate verbrachte Matayo schließlic­h auf der Station im AKH.

Fassungslo­sigkeit

Nach einiger Zeit Aufenthalt folgte die Diagnose: komplexe Traumafolg­estörung. Die Freilechne­rs besorgten Fachlitera­tur, um sich darüber zu informiere­n. Psychother­apie sei das wichtigste, stand in den Büchern. Ihnen wurde gesagt, dass diese nicht vom Krankenhau­s angeboten wird. Sie waren fassungslo­s. So organisier­te das Ehepaar eine spezielle Trauma-Therapeuti­n auf eigene Faust.

Mit dem Footballsp­ielen musste Matayo aufhören. Wenn es ihm schlecht ging, schlug er mit dem Kopf gegen die Wand oder er bog den Finger nach hinten, mit dem Ziel, ihn zu brechen. Die Freilechne­rs pflegen heute ein sehr ambivalent­es Verhältnis zu der Station im AKH. Einerseits war es Matayos „ambulanter, sicherer Hafen“, wenn er sich schlecht fühlte. Dort wurde versucht, ihm zu helfen. Auf der anderen Seite passierten dort einige traumatisi­erende Erlebnisse. Einmal wurde er von acht Pflegekräf­ten ans

Bett fixiert. Dabei wurde ein Pfleger körperlich verletzt, was zu einer Anzeige führte.

Am 20. Jänner 2017 wurde Matayo nach dem 14 Monate dauernden Aufenthalt entlassen und musste „nur noch ambulant“versorgt werden. Seine Ausbrüche wurden aber immer heftiger. Er sprach nun Drohungen gegen das KranMit elf Jahren verändert Matayo sich. Drei Jahre später sitzt er vor Gericht. Bis heute gibt es keine klare Diagnose. Und auch keine passende Therapie. kenhausper­sonal aus, er werde mit dem Messer kommen und sie abstechen. Er zerschlug eine Glasscheib­e auf der Station im AKH, warf mit Sesseln um sich. Immer öfter mussten Securitys hinzugeruf­en werden, weil der Bub mittlerwei­le so groß und kräftig war. Einmal schlug er einer Ärztin mit der Faust ins Gesicht.

Im Oktober 2018, Matayo war nun 14 Jahre alt, hatte Nora Freilechne­r sechs Anzeigen gegen ihren Sohn auf dem Tisch liegen. Alle vom Spital. Sie verstand die Welt nicht mehr, da ihrem Sohn doch ständig gesagt wurde, dort könne er seine „Anfälle“ausleben, das sei sein geschützte­r Bereich. Seine Ärzte dürfen aufgrund der Schweigepf­licht nichts zum KURIER sagen.

Am 9. März 2019 bat Matayo seine Mutter, die Polizei zu rufen, denn er plane einen Amoklauf. Es folgte die Einweisung auf die Kinderpsyc­hiatrie. Kurz darauf wird Matayo dort abgeholt und in UHaft gesteckt, die er am Neuromed-Campus in Linz verbringt. Die Freilechne­rs wandten sich an den Verein SiM, der sich für „geistig abnorme Rechtsbrec­her“, wie es noch immer stigmatisi­erend heißt, einsetzt. SiM-Obmann Markus Drechsler machte das Ehepaar darauf aufmerksam, dass im schlimmste­n aller Fälle der Maßnahmenv­ollzug drohen könnte. „Das kann doch kein Zustand für einen 14-Jährigen sein“, sagt Drechsler empört und tat alles dafür, um dieses Szenario abzuwenden, was vorerst auch gelungen ist. „Es braucht hier eine Alternativ­e und das Mindestmaß an Sicherheit, damit nichts passiert. Ein gewisses Restrisiko gibt es für die Gesellscha­ft aber immer.“

Die Verhandlun­g

Nach drei Monaten UHaft fand im Juni schließlic­h die Gerichtsve­rhandlung statt. Die Richterin erklärte Matayo, er habe Krankenhau­spersonal in „Furcht und Unruhe“versetzt und sich der gefährlich­en Drohung und Körperverl­etzung schuldig gemacht. Matayo blickte die meiste Zeit auf den Boden. Wenn er antwortete, dann tat er dies in knappen Sätzen. Hintereina­nder wurden fünf Zeugen aufgerufen, bei denen er sich entschuldi­gte. Medizinisc­hes Personal, das er bedroht oder verletzt hatte. Sie alle verzichtet­en auf finanziell­e Wiedergutm­achung und gaben sich mit der Entschuldi­gung zufrieden. Ein Pfleger beschrieb detaillier­t, wie die Schutzfixi­erung bei Matayo damals abgelaufen sei. „Acht Personen haben versucht, ihn ans Bett zu schnallen. Ich habe den rechten Fuß gehalten, und natürlich hat er gezappelt und um sich getreten. Dabei wurde mein Handgelenk verletzt, das war aber sicher keine Absicht. Ich hätte mich auch gewehrt.“

Kein Platz für Matayo? Die Richterin zitierte ein Gutachten, in dem plötzlich von juveniler Schizophre­nie die Rede ist. Ungläubige­s Kopfschütt­eln bei den Eltern. Sie forderte die schnellstm­ögliche Unterbring­ung in einer speziellen Einrichtun­g. Infrage kamen ein betreutes Wohnhaus des Verein WOBES oder die sozialpsyc­hiatrische Wohngemein­schaft Oase 3 (MA 11). Bis September 2019 sollte Matayo einen Platz haben. So die Weisung der Richterin. Aus Mangel an anderen Möglichkei­ten, durfte er bis dahin nach Hause.

„Es handelt sich bei der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie um ein sehr junges Fach und darunter leiden wir“, sagt Dr. Christian Kienbacher, Vorstandsm­itglied der Österreich­ischen Liga für Kinderund Jugendgesu­ndheit. „Ein großes Manko sehen wir im

„Die Medikament­e haben meinen Sohn zum lebenden Zombie gemacht.“

Markus Drechsler SiM-Obmann

„Der Maßnahmenv­ollzug kann kein Zustand für einen 14-Jährigen sein.“

der Psycho-, Ergound Logotherap­ien, dafür fehlen österreich­weit die Kassenstel­len.“Ein weiteres Problem: Psychische Krankheite­n seien in unserer Gesellscha­ft noch immer nicht gleichgese­tzt mit körperlich­en. Und: Die Kinderpsyc­hiatrie wurde vom Gesundheit­sministeri­um zum Mangelfach erklärt. Es fehlt an Arztperson­al. „Dennoch tut sich etwas, aber wir bewegen uns von einem niedrigen in ein etwas höheres Versorgung­sniveau. Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein sollten“, sagt Kienbacher.

Matayos Geschichte ist komplex. Aus der Forschung ist bekannt, dass adoptierte Kinder oft traumatisc­he Erfahrunge­n gemacht haben, bevor sie zu ihren neuen Eltern kommen. Wie stark diese seelischen Belastunge­n wirklich sind, zeigt sich erst im Heranwachs­en.

Für Familie Freilechne­r jedenfalls hat das System versagt. „Der Sommer zu Hause verlief zum Glück ohne Eskalation­en“, sagt die Mutter. Mittlerwei­le haben aber beide Wohngemein­schaften, die die Richterin in ihrer Weisung genannt hatte, abgesagt. Sie können Matayo nicht aufnehmen. „Jetzt müssen wir warten, was das Gericht macht“, sagt Drechsler.

*Die Namen von Familie Freilechne­r wurden geändert

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