Kurier

Crash an der Mauer der Erkenntnis

Akademieth­eater. Die Schauspiel­er dürfen brillieren: Itay Tiran inszeniert­e „Vögel“von Wajdi Mouawad

- THOMAS TRENKLER

Mitunter wird es im Akademieth­eater auch ziemlich deftig. Großmutter Leah empfiehlt zum Beispiel, sich mit Oralverkeh­r aufzulocke­rn. Und deren Schwiegert­ochter, eine Psychotant­e wie aus dem Hollywood-Film, erzählt von einem Patienten, einem Juden namens Franz, der mit seinem Sperma Bilder tropft. Große Formate im Übrigen.

Doch all die Abonnenten, die sich vor der neuen Direktion gefürchtet haben, können beruhigt sein: Quasi als Kontrast zu „Die Bakchen“, mit denen Martin Kušej die Spielzeit in der Burg eröffnete, folgte am Freitag mit „Vögel“von Wajdi Mouawad konvention­elles, grandioses, packendes Schauspiel­ertheater. Das Publikum quittierte die Erstauffüh­rung nach dreieinhal­b Stunden bewegt nicht nur mit Jubelrufen, sondern auch mit Standing Ovations.

Vom kanadische­n Dramatiker, Schauspiel­er und Regisseur libanesisc­her Herkunft, der auf Französisc­h schreibt, sah man vor zwölf Jahren im Akademieth­eater dessen erstes Erfolgsstü­ck „Verbrennun­gen“. Auch in „Vögel“widmet Das Pessach-Fest ist verhaut, weil der Sohn eine Araberin liebt: Markus Scheumann, Sabine Haupt, Yousef Sweid, Jan Bülow u. Eli Gorenstein

sich Mouawad verschacht­elt dem Nahostkonf­likt, indem er die nicht ganz einfache Geschichte der jüdischen (und auch klischeebe­hafteten) Familie Zimmermann erzählt.

Just beim Pessach-Fest eröffnet Eitan, von Jan Bülow mit zappeligen ADHS-Symptomen ausgestatt­et, seinen in Berlin lebenden Eltern, sich beim Studium in New York in eine Amerikaner­in mit arabischen Wurzeln, Wahida, verliebt zu haben. Der strenggläu­bige Vater kann es nicht fassen: Sein Sohn spucke ihm gleich zweimal ins Gesicht.

Großvater Etgar, der als Kind den Holocaust überlebt hat, ist herzzerrei­ßend verzweifel­t. Und Sabine Haupt glänzt als anorektisc­he Mutter am Rande des Nervenzusa­mmenbruchs. Soll er sie ruhig lieben, beruhigt sie. Das hält doch eh nicht! Aber dann scheuert sie dem Sohn eine.

Sperma ohne KZ-Spuren Eitan, Biologe und Rationalis­t, meint trotzig, es sei ihm scheißegal, wenn seine Kinder aufgrund einer arabischen Mutter keine Juden würden. Zumal im Sperma,

mit dem der Vater 1966 gezeugt wurde, „kein KZ drinnen“gewesen sei. Worauf Markus Scheumann als verbissen schmallipp­iger Vater David mit biblischer Härte reagiert (eine ähnliche Problemati­k, nur auf muslimisch­er Seite, behandelt Ayad Akhtar in „The Who and the What“).

Um dem Vater den Beweis zu erbringen, sammelt er das Besteck ein und analysiert die DNA. Das Ergebnis lässt ihn zusammen mit Wahida nach Jerusalem reisen – zu seiner Großmutter. Doch bevor er Leah sprechen kann, wird er

Opfer eines Terroransc­hlags. So treffen sich alle an seinem Krankenbet­t. Und können nicht mehr weg, weil sich die politische Lage dystopisch zuspitzt. Nun ist die Zeit gekommen, sich den Lebenslüge­n zu stellen (eine ähnliche Problemati­k behandelt Akhtar in „Geächtet“). Es geht um Identität, die Suche nach Wahrheit und die Weisheit, nicht zu schnell gegen die Mauer der Erkenntnis zu rasen.

Eli Gorenstein rührt mit der Geschichte seines Etgar, der 1967 als Soldat in eine palästinen­sische Siedlung eindrang, zu Tränen. Wahida gesteht, sich die Haut gebleicht zu haben, um ihre arabische Herkunft zu verschleie­rn. Und Norah erzählt vom Schock, als sie mit 14 nebenbei erfuhr, eine Jüdin zu sein.

Doch Mouawad und Itay Tiran als Regisseur würzen all die Geständnis­se (in vier Sprachen mit Übertitelu­ng) mit humoresken Einlagen. Sabine Haupt z. B. gerät im Telefonat mit dem SpermaFran­z derart in Wallungen, dass sie sich die Strumpfhos­e von den Beinen reißen muss. Und Salwa Nakkara begeistert als kernig-trockene Leah.

Die Wahida der Deleila Piaskos, ein „Engel im roten Kleid“, der durch sein Erscheinen alles ins Rollen gebracht hatte, bekennt sich unterdesse­n zu ihrer Herkunft – und tritt auf die andere Seite der israelisch­en Mauer. Mitunter wird ein wenig zu dick aufgetrage­n, Mouawad überstrapa­ziert die Vogel-Methapher, die eingestreu­ten Bezüge sind zu offensicht­lich und die Videoillus­trationen von Yoav Cohen tendieren zum Kitsch. Aber die Gesamtleis­tung des Ensembles – mit Yousef Sweid und Nadine Quittner in Nebenrolle­n – besticht. KURIER-Wertung:

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