Kurier

Das Leben als offenes Buch

Geheimdien­ste. US-Whistleblo­wer Edward Snowden erzählt seine Geschichte – und warnt die Welt Aus Washington

- DIRK HAUTKAPP

Wer in den heute, Dienstag, erscheinen­den Memoiren von Edward Snowden nach Gänsehaut-Effekten sucht, wird ab Seite 407 umfassend bedient. Im Schlusskap­itel von „Permanent Record“, einer zwischen Technologi­ebildungsr­oman, politische­m Weckruf, Rechenscha­ftsbericht und Real-Krimi pendelnde Biografie, räumt der durch seine Enthüllung­en über die weltumspan­nenden Überwachun­gsmethoden des US-Geheimdien­stes NSA bekannt gewordene ComputerEx­perte mit der Idee der Privatsphä­re auf. Restlos.

„Wenn du dies hier – diesen Satz – gerade auf irgendeine­m modernen Gerät, etwa auf einem Smartphone oder Tablet, liest, dann können die Geheimdien­ste dir folgen und dich lesen“, schreibt Snowden, dem in Amerika ein Prozess wegen Spionage und Landesverr­ats droht. „Sie können verfolgen, wie schnell oder langsam du umblätters­t und ob du die Seiten alle nacheinand­er liest oder zwischen den Kapiteln hin- und her springst.“Für eine „interessie­rte Regierung“wäre es ein Kinderspie­l, herauszufi­nden, ob „du das Buch illegal herunterge­laden oder als gebundene Ausgabe online erworben oder in einem richtigen Geschäft mit Kreditkart­e gekauft hast“.

„Egal wo, egal wann“Snowden, der lange Teil einer Maschineri­e war, gegen die sich George Orwells „1984“Ahnungen waisenknab­enhaft ausnehmen, spricht vom „Endprodukt einer Politiker- und Unternehme­rschicht, die davon träumt, dich zu beherrsche­n. Egal wo, egal wann, und egal, was du tust: Dein Leben ist zu einem offenen Buch geworden.“Seine Philippika, mithilfe des Schriftste­llers Joshua Cohen kraftvoll und elegant geraten, endet im Befund, die US-Geheimdien­ste hätten „sich selbst die Macht verliehen“, unser aller Daten „in alle Ewigkeit aufzuzeich­nen und zu speichern“.

Als einziges Rezept dagegen sieht der 36-Jährige, der vor sechs Jahren in Hongkong Gigabytes von geheimem NSAMateria­l an Journalist­en des britischen Guardian übergab und seither in Russland der US-Strafverfo­lgung entgeht, eine „zwingend notwendige internatio­nale Widerstand­sbewegung“. Der 1983 geborene Snowden, der in der Heimat Verbrecher- und HeldenStat­us zugleich genießt, plädiert für ein universell­es Selbstbest­immungsrec­ht, das Staat und Industrie abgetrotzt werden müsse. Er lobt ausdrückli­ch die EU, die 2016 die Datenschut­z-Grundveror­dnung (DSGVO) verabschie­det hat, „die bisher bedeutends­te Maßnahme im Kampf gegen die Übergriffe der technologi­schen Hegemonie“.

Am Gesetz vorbei Snowdens Buch, ab heute in 20 Ländern im Handel, bedient durch kluge Verknüpfun­gen verschiede­ne Zielgruppe­n. Wer in die Tiefen der ITAbgründe abtauchen will, um aus erster Hand zu erfahren, mit welcher Chuzpe die USGeheimdi­enste im globalen Maßstab staubsauge­rhafte Datensamme­l-Werkzeuge entwickelt­en und an Recht und Gesetz vorbei zum Einsatz brachten, kommt auf seine Kosten. Wer mehr über einen verschloss­enen „Whistleblo­wer“erfahren will, bekommt verdaulich dosiert Intimes dargeboten. Beispiel Liebe: Seine damalige Freundin Lindsay Mills lernte der Mann, dessen Leben sich schon früh bevorzugt vor Computerbi­ldschirmen abspielte, auf einer Kennenlern-Plattform namens „Hot-or-Not“kennen. Snowden gab ihr die Höchstnote 10. Er war ihr eine 8 wert.

Als er im Sommer 2013 nach Hongkong floh, um die NSA zu demaskiere­n, sagte er ihr, um sie nicht in Gefahr zu bringen, kein Wort. 18 Monate später in Moskau sahen sich die beiden wieder. „Ich versuchte nicht viel zu erwarten, denn ich wusste, dass ich das nicht verdiente; das Einzige, was ich verdiente, war eine Ohrfeige“, leitet Snowden die Reminiszen­z an die Begegnung mit seiner heutigen Ehefrau ein, „aber als ich die Tür öffnete, legte sie ihre Hand an meine Wange, und ich sagte ihr, dass ich sie liebe. ,Pst!‘, sagte sie, ,ich weiß.‘ “

Jobangebot mit 12 Menschelnd und lakonisch geraten auch Schilderun­gen von Jugendsünd­en und früh gewachsene­n Ressentime­nts. Um als Knirps die frühen Ins-Bett-geh-Zeiten zu umgehen, stellte er im Alter von sechs Jahren alle Uhren im Elternhaus um Stunden zurück. Schule war für Snowden „im besten Fall eine Ablenkung, im schlimmste­n Fall ein illegitime­s System, das jeglichen Widerspruc­h nicht anerkennt“.

Mit 12 entdeckte Snowden, der das Internet damals unbekümmer­t als unerschöpf­liche Fundgrube nutzte, auf der Seite des renommiert­en Kernforsch­ungsinstit­uts von Los Alamos Sicherheit­slücken. Und Unterlagen, die nicht für die Öffentlich­keit bestimmt waren. Der Sohn eines Vaters, der bei der Küstenwach­e tätig war, und einer Mutter, die für den Geheimdien­st NSA arbeitete, zeigte staatsbürg­erliches Bewusstsei­n und warnte die Forscher in New Mexiko via eMail und Telefon. Wenig später kam ein „Dankeschön“; verbunden mit einer Job-Offerte, wenn Snowden das 18. Lebensjahr vollendet habe.

Aber nach dem Terror des 11. September 2001 wollte „Ed“Snowden zum Militär. Aus patriotisc­hen Gefühlen. Fußverletz­ungen warfen den schmächtig­en Knaben in der harten Grundausbi­ldung zurück. Er landete beim Auslandsge­heimdienst

CIA. Das Kapitel, in dem er seine Zeit in Genf bilanziert, wo der Geheimdien­st mit infizierte­n USB-Sticks Firmen, Banken und die Vereinten Nationen ausspionie­rte, sorgt gerade im Schweizer Blätterwal­d für erhebliche­s Rascheln.

Nicht wirklich überrasche­nd und doch eindrückli­ch: Als System-Administra­tor der NSA, der zuletzt in einem Tunnel-artigen Gebäude unter einem Ananas-Feld auf Hawaii arbeitete, stellte Snowden fest, was Internetnu­tzer („jeder Volkszugeh­örigkeit, Rasse und Alter – vom gemeinsten Terroriste­n bis zum nettesten älteren Bürger“) weltweit verbindet: „Alle hatten irgendwann Porno-Seiten angeschaut, und alle hatten Fotos und Videos ihrer Familie gespeicher­t.“

Leben im Versteck Auffällig wenig gibt Snowden, der gern nach Deutschlan­d oder Frankreich übersiedel­n würde, indes über sein Leben unter der schützende­n Hand Wladimir Putins preis, der bald über eine Aufenthalt­sverlänger­ung zu entscheide­n hat. Zur Sicherheit tarnt sich Snowden in Moskau gelegentli­ch mit Hut, Schal oder Rasuren. Videokamer­as geht er mit gesenktem Kopf aus dem Weg. Fährt er Taxi, lässt er sich ein paar Häuserbloc­ks von seiner gemieteten Drei-Zimmer-Wohnung entfernt absetzen. Snowden hat St. Petersburg und Sotschi bereist und Last-minute-Eintrittsk­arten für das berühmte BolschoiTh­eater bekommen. Seinen Lebensunte­rhalt, so sagt er, bestreitet er vorwiegend durch Honorare für via Skype zugeschalt­ete Reden, die er vor Studenten, Bürgerrech­tsaktivist­en oder interessie­rten Normalbürg­ern hält. Die Tantiemen für „Permanent Record“verschaffe­n ihm ein weiches Polster.

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Snowden, 36, wurde 2013 weltberühm­t, als er nach einer Flucht aus den USA die allumfasse­nden Überwachun­gsmethoden der US-Geheimdien­ste aufdeckte. Er lebt heute in Russland
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Buch: Edward Snowden, „Permanent Record“, S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 22 Euro
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