Kurier

Eine Meldung und ihre Geschichte

Der „Fall Relotius“in Buchform liest sich wie ein Krimi und ist peinlich für den Spiegel

- VON PHILIPP WILHELMER APA / JOHANNES EISELE

Ende des Vorjahres erlebte das renommiert­e Nachrichte­nmagazin Der Spiegel seine wohl schwerste Krise: Sein preisgekrö­nter Reporter Claas Relotius hatte sich als dreister Fälscher entpuppt.

Zu Fall gebracht hatte ihn ein hartnäckig­er Kollege, der freie Autor Juan Moreno, dem Details aus einer gemeinsame­n Arbeit nicht stimmig vorgekomme­n waren. Wie sich zeigte, war das nur die Spitze des Eisberges.

Moreno legt nun mit „Tausend Zeilen Lüge“seine Version der dramatisch­en Geschehnis­se vor. Und er, der seine eigene Karriere aufs Spiel setzte, um einen Betrüger zu Fall zu bringen, stellt dem Spiegel alles andere als ein schmeichel­haftes Zeugnis aus. Man habe Moreno „viel zu verdanken“, schrieb das Magazin im Dezember des Vorjahres, als es den eigenen Skandal aufdeckte. „In der Regel muss man tot sein, damit der Spiegel so etwas Nettes über einen druckt“, ätzt Moreno im Buch: „Also, was hatte ich getan? Ich hatte herausgefu­nden, gegen massiven Widerstand im Spiegel, dass der mit Preisen überschütt­ete Spiegel-Reporter Claas Relotius ein Fälscher war.“

Freier Autor

Massiver Widerstand? Um diese Behauptung einordnen zu können, muss man wissen, dass Moreno zwar jahrelang als Autor für das Magazin tätig war und in alle Welt reiste, allerdings keine Festanstel­lung hatte – sein Beschäftig­ungsverhäl­tnis wäre von heute auf morgen kündbar gewesen. Relotius hingegen, der mit über 40 Preisen überhäufte Reportages­tar, war nicht nur angestellt, sondern stand zum Zeitpunkt des journalist­ischen Disputs kurz vor der Beförderun­g zum Ressortlei­ter – wäre er am Ende nicht über seine Lügen gestolpert, wäre er am Ende des Konflikts als Morenos Chef dagestande­n.

Wie gut seriöse SpiegelRep­orter schreiben, lässt sich in „Tausend Zeilen Lüge“nachprüfen: Die Geschichte des spanischst­ämmigen Freelancer­s, der seinen jüngeren Star-Kollegen zur Strecke bringt, obwohl ihm kein Vorgesetzt­er Vertrauen schenkt, ist ein atemberaub­ender Krimi aus Fakten, Recherchen und Anekdoten.

Fälscher, nicht Reporter Fasziniere­nd bleibt bis zum Schluss der Grund für die kriminelle­n Umtriebe des ExSpiegel-Mitarbeite­rs: Relotius sei eben kein Reporter, sondern ein Fälscher, ein notorische­r Lügner, der stets wusste, wie er sein Gegenüber packen sollte. Moreno spricht von einer Technik des „Spiegelns“(keine Pointe), mit der er stets die Position seines Gegenübers genauso einnahm, wie es Nähe suggeriert­e. Bizarrstes Detail: Einzelkind Relotius erfand in einem Einstellun­gsgespräch eine krebskrank­e Schwester. Hart ins Gericht geht Moreno mit seinen ehemaligen Vorgesetzt­en Matthias Geyer und Ullrich Fichtner, die ihm Neid unterstell­ten Freelancer Juan Moreno deckte den Skandal auf

und ihn massiv unter Druck setzten. Der darob verzweifel­te Reporter reiste nach Amerika, um angebliche Gesprächsp­artner von Relotius zu treffen, die ihm auf Video bestätigte­n, sie hätten den Mann noch nie getroffen – allein: Man glaubte ihm im Verlag immer noch nicht. Als das Kartenhaus zusammenst­ürzte, folgte ein Einzeiler per E-Mail, dass er recht habe.

Die beiden Vorgesetzt­en fielen weich: Sie wurden mit Sonderaufg­aben betreut, dabei hätte ihnen laut Moreno früh auffallen müssen, dass mit dem angebliche­n Goldjungen etwas nicht stimmen könne. „Hätten Matthias Geyer oder Ullrich Fichtner kurz im Internet den Namen ,Claas Relotius‘ gegoogelt, hätten sie bemerkt, dass er ein paar Monate zuvor ein Problem mit NZZ Folio gehabt hatte. Die Schweizer hatten die Zusammenar­beit mit ihm beendet.“ Der preisgekrö­nte Fälscher Claas Relotius ist seither abgetaucht

Der Spiegel legte im Mai eine schonungsl­ose Dokumentat­ion über den Fall Relotius vor. Als wichtige Ergänzung folgt nun die Stimme jenes Reporters, der den Fall aufdeckte – ohne Fallnetz mit Aussicht auf „Sonderaufg­aben“im Haus.

Das Buch beschreibt der neue Spiegel-Chefredakt­eur Steffen Klusmann im eigenen Medium so: „Juan Moreno hat versproche­n, dass wir ,Tausend Zeilen Lüge‘ nicht mögen würden, dass sein Buch aber keine Abrechnung werde. Er hat Wort gehalten.“

 ??  ?? Nachrichte­nflaggschi­ff in Seenot: „Der Spiegel“Verlagshau­s in Hamburg
Nachrichte­nflaggschi­ff in Seenot: „Der Spiegel“Verlagshau­s in Hamburg
 ??  ?? Juan Moreno: „Tausend Zeilen Lüge“Rowohlt Berlin. 288 Seiten. 18,50 Euro.
Juan Moreno: „Tausend Zeilen Lüge“Rowohlt Berlin. 288 Seiten. 18,50 Euro.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria