Eine Meldung und ihre Geschichte
Der „Fall Relotius“in Buchform liest sich wie ein Krimi und ist peinlich für den Spiegel
Ende des Vorjahres erlebte das renommierte Nachrichtenmagazin Der Spiegel seine wohl schwerste Krise: Sein preisgekrönter Reporter Claas Relotius hatte sich als dreister Fälscher entpuppt.
Zu Fall gebracht hatte ihn ein hartnäckiger Kollege, der freie Autor Juan Moreno, dem Details aus einer gemeinsamen Arbeit nicht stimmig vorgekommen waren. Wie sich zeigte, war das nur die Spitze des Eisberges.
Moreno legt nun mit „Tausend Zeilen Lüge“seine Version der dramatischen Geschehnisse vor. Und er, der seine eigene Karriere aufs Spiel setzte, um einen Betrüger zu Fall zu bringen, stellt dem Spiegel alles andere als ein schmeichelhaftes Zeugnis aus. Man habe Moreno „viel zu verdanken“, schrieb das Magazin im Dezember des Vorjahres, als es den eigenen Skandal aufdeckte. „In der Regel muss man tot sein, damit der Spiegel so etwas Nettes über einen druckt“, ätzt Moreno im Buch: „Also, was hatte ich getan? Ich hatte herausgefunden, gegen massiven Widerstand im Spiegel, dass der mit Preisen überschüttete Spiegel-Reporter Claas Relotius ein Fälscher war.“
Freier Autor
Massiver Widerstand? Um diese Behauptung einordnen zu können, muss man wissen, dass Moreno zwar jahrelang als Autor für das Magazin tätig war und in alle Welt reiste, allerdings keine Festanstellung hatte – sein Beschäftigungsverhältnis wäre von heute auf morgen kündbar gewesen. Relotius hingegen, der mit über 40 Preisen überhäufte Reportagestar, war nicht nur angestellt, sondern stand zum Zeitpunkt des journalistischen Disputs kurz vor der Beförderung zum Ressortleiter – wäre er am Ende nicht über seine Lügen gestolpert, wäre er am Ende des Konflikts als Morenos Chef dagestanden.
Wie gut seriöse SpiegelReporter schreiben, lässt sich in „Tausend Zeilen Lüge“nachprüfen: Die Geschichte des spanischstämmigen Freelancers, der seinen jüngeren Star-Kollegen zur Strecke bringt, obwohl ihm kein Vorgesetzter Vertrauen schenkt, ist ein atemberaubender Krimi aus Fakten, Recherchen und Anekdoten.
Fälscher, nicht Reporter Faszinierend bleibt bis zum Schluss der Grund für die kriminellen Umtriebe des ExSpiegel-Mitarbeiters: Relotius sei eben kein Reporter, sondern ein Fälscher, ein notorischer Lügner, der stets wusste, wie er sein Gegenüber packen sollte. Moreno spricht von einer Technik des „Spiegelns“(keine Pointe), mit der er stets die Position seines Gegenübers genauso einnahm, wie es Nähe suggerierte. Bizarrstes Detail: Einzelkind Relotius erfand in einem Einstellungsgespräch eine krebskranke Schwester. Hart ins Gericht geht Moreno mit seinen ehemaligen Vorgesetzten Matthias Geyer und Ullrich Fichtner, die ihm Neid unterstellten Freelancer Juan Moreno deckte den Skandal auf
und ihn massiv unter Druck setzten. Der darob verzweifelte Reporter reiste nach Amerika, um angebliche Gesprächspartner von Relotius zu treffen, die ihm auf Video bestätigten, sie hätten den Mann noch nie getroffen – allein: Man glaubte ihm im Verlag immer noch nicht. Als das Kartenhaus zusammenstürzte, folgte ein Einzeiler per E-Mail, dass er recht habe.
Die beiden Vorgesetzten fielen weich: Sie wurden mit Sonderaufgaben betreut, dabei hätte ihnen laut Moreno früh auffallen müssen, dass mit dem angeblichen Goldjungen etwas nicht stimmen könne. „Hätten Matthias Geyer oder Ullrich Fichtner kurz im Internet den Namen ,Claas Relotius‘ gegoogelt, hätten sie bemerkt, dass er ein paar Monate zuvor ein Problem mit NZZ Folio gehabt hatte. Die Schweizer hatten die Zusammenarbeit mit ihm beendet.“ Der preisgekrönte Fälscher Claas Relotius ist seither abgetaucht
Der Spiegel legte im Mai eine schonungslose Dokumentation über den Fall Relotius vor. Als wichtige Ergänzung folgt nun die Stimme jenes Reporters, der den Fall aufdeckte – ohne Fallnetz mit Aussicht auf „Sonderaufgaben“im Haus.
Das Buch beschreibt der neue Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann im eigenen Medium so: „Juan Moreno hat versprochen, dass wir ,Tausend Zeilen Lüge‘ nicht mögen würden, dass sein Buch aber keine Abrechnung werde. Er hat Wort gehalten.“