Kurier

Beginn der Zeitrechnu­ng „ohne Bibi“

Sollte es zu einer Regierung kommen, muss der Langzeitpr­emier vermutlich Platz machen

- AUS TEL AVIV NORBERT JESSEN

„Bibi“– ja oder nein? Die Frage ist so unentschie­den wie das Kräftemess­en zwischen Israels Blöcken Links und Rechts bei den Parlaments­wahlen vom Dienstag. Auch wenn Benjamin „Bibi“Netanjahus Herausford­erer Benny Gantz nach Auszählung der meisten Stimmen am Mittwoch mit einem Knesset-Sitz vorne lag (32 von 120 Mandaten), ist ein Ende der fast 15-jährigen Amtszeit des Premiermin­isters nicht zwingend. Allerdings auch nicht unwahrsche­inlich. Denn das chaotische Ergebnis zeigt unmissvers­tändlich: Die Wahl hat Netanjahu verloren.

Wie geht das trotz ungefähren Gleichstan­ds? Das hat viel mit Netanjahus Omnipräsen­z in der israelisch­en Politik zu tun, der viele Israelis und mögliche politische Partner doch müde sind.

Politische­r Spürsinn

„Eine Persönlich­keit mit starkem politische­n Spürsinn und enormen intellektu­ellen Fähigkeite­n.“Diese Beurteilun­g des Langzeitpr­emiers kommt von Scheli Yechimovic, die als Journalist­in und linke Abgeordnet­e Netanjahu über Jahre aus der Nähe beobachten konnte. Und sie ist unbestritt­en. So wie seine dunklen Seiten – Betrug, Hetze und Spaltung. Netanjahu drohen drei Anklagen wegen Korruption.

Das Wahlergebn­is war kein Linksruck, auch wenn Benny Gantz’ Mitte-LinksBlock gleichauf bis vorne lag. Sondern ein Rechtsruts­ch. Nach rechts – aber ohne „Bibi“, wie Netanjahu in Israel genannt wird. Denn: Avigdor Lieberman, der schon im Frühjahr nach den Wahlen als Zünglein an der Waage eine neue Regierung Netanjahu verhindert hatte, bot seinen Wählern mehr an als „nur nicht Bibi“. Er kam mit seiner Beytenu-Partei auf 10 Mandate. Sein Verspreche­n läuft auf eine Große, auch säkulare Koalition hinaus. Ohne „Bibi“und ohne Bevormundu­ng durch seine religiösen Partner. Wieweit diese Koalitions­möglichkei­t überhaupt existiert, ist fraglich. Aber sie wird von vielen gefühlt.

Bibi-Müdigkeit

Liebermans politische­r Spürsinn weitete den Wahlkampf aus. Durch Inhalt! Nicht nur in israelisch­en Wahlkämpfe­n ist der seit Langem Nebensache. Die Rückkehr des früheren Verteidigu­ngsministe­rs unter Netanjahu hatte mehr Wirkung auf Wechselwäh­ler als erwartet. Nicht nur die Linke ist „Bibi“-müde. Ich bin der Staat? – Nein, danke.

Was sich noch deutlicher zeigt beim Blick auf den zweiten Hauptgewin­ner neben Lieberman: Die Arabische Liste war in diesem Wahlkampf nicht Opfer der obligatori­schen Hetze, die Netanjahu in der Endphase wieder lostrat. Da ging es gegen Linke, Justiz, Medien, Polizei, die „anderen“eben, und dann auch gegen „die“Araber. Diesmal zog die Masche nicht. Im Gegenteil: Sie erhöhte die Wahlbeteil­igung der arabischen Israelis. „Hetze fordert ihren Preis“lautete der Konter-Slogan.

Araber mobilisier­t

Zum ersten Mal bewegen sich die arabischen Abgeordnet­en nicht als Außenseite­r im Parlament. Für ihre (bislang) passive Unterstütz­ung soll Benny Gantz jetzt in harter Währung zahlen: Veränderun­gen am strittigen Nationalst­aatsgesetz. Finanziell­e Hilfe an arabische Kommunen. Mindestens. „Ohne Bibi“geht eben nicht ohne sie.

Koalitions­verhandlun­gen sind eigentlich Netanjahus Element. Schafft er es, in den Linksblock Breschen zu schlagen? Schafft Gantz es, den Likud zur Verabschie­dung „Bibis“zu bewegen? Hinter den Kulissen ist schon von einer neuartigen Rotation die Rede: Netanjahu wird doch wieder Premier in einer Großen Koalition. Und Gantz übernimmt dann. Nach der Anklageerh­ebung gegen „Bibi“. Die Neuwahlen haben das Patt zwischen links und rechts verfestigt. Viele Israelis sind nach insgesamt 15 Jahren Netanjahu „Bibi“-müde

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria