Die rustikaleHauptstadt
Wiener Wiesn. In neun Jahren ist das Oktoberfest im Praterummehr als dasZehnfache gewachsen. Warum?
Warum Events wie die „Wiener Wiesn“immer beliebter werden.
Es gab eine Zeit, da trugen in Wien maximal ältere Hofratswitwen mit Haus am Land auch in der Stadt Tracht. Diese Zeit ist vorüber. Wer ab Donnerstag und irgendwann bis 13. Oktober inWien mit der U-Bahn fährt, wird es merken. Da sind sie wieder allgegenwärtig, die Menschen in Tracht – so wie sie es verstehen – mit grellen Dirndln und zünftigen Lederhosen.
Heuer findet das sogenannte Wiener Wiesnfest bereits zum neunten Mal statt. Und seit seinem Bestehen ist es um mehr als das Zehnfache angewachsen. Zwischen 20.000 und 30.000 Besucher kamen im ersten Jahr. „Mehr werden es nicht gewesen sein“, sagt Veranstalter Christian Feldhofer. Im vergangenen Jahr vermeldete er einen Besucherrekord: 400.000 Menschen kamen in 18 Tagen zurWienerWiesn.
Auch heuer gibt es nur noch an den Montagen und Dienstagen Plätze im Festzelt. Die restlichen Tage, für die Sitzplätze im Zelt reserviert werden und Tickets gekauft werden müssen, sind schon zu 90 Prozent ausgebucht.
Wie konnte sich eine derart zünftige Veranstaltung, auf der die Menschen mit Bierkrügen (und Weingläsern) in der Hand auf Tischen tanzen, Brezeln essen und jeden Abend Reinhard Fendrichs „I am from Austria“grölen, derart viel Platz in einer Stadt verschaffen, in der ein Fest wie dieses so deplatziert scheint?
Regional statt urban
„Wir sind ein Gegenpol der Regionalität in einer urbanen Welt“, sagt Christian Feldhofer. Er hat die Wiener Wiesn vor neun Jahren von den ursprünglichen Organisatoren, die vor der Insolvenz standen, übernommen – und groß gemacht.
„Ja, vielleicht hat das Fest am Anfang deplatziert ge
„Wir sind ein Gegenpol der Regionalität in einer urbanenWelt und befriedigen das Bedürfnis nach Heimat.“Christian Feldhofer
Veranstalter der Wiener Wiesn
wirkt“, sagt Feldhofer. Neues, das modern ist, sei man in einer Großstadt schließlich gewohnt. Neues, das traditionell ist, hingegen nicht. „Wenn man den Begriff ,Heimat‘ vor 15 Jahren verwendet hätte, wäre man komisch angeschaut worden“, sagt Feldhofer. Das sei mittlerweile anders. Bei der Wiener Wiesn gehe es um „Verwurzelung“in einer globalen Welt, sagt Feldhofer. „Es gibt ein Bedürfnis nach Heimat. Das befriedigen wir.“
Aber gibt es das tatsächlich, das Bedürfnis nach Heimat? Ja – zumindest wenn es nach dem Freizeitforscher Peter Zellmann geht. „Seit den Nullerjahren interessieren sich die Menschen wieder verstärkt für die Natur und ihre nähere Umgebung – also ihre Heimat.“In diese Entwicklung passe auch die WienerWiesn.
Und ja, für Zellmann gibt es auch ein „Naturbedürfnis“, eine „Rückkehr zu den Wurzeln“, wie er es nennt. Allerdings: Die spreche etwa ein Drittel der Städter an. „Für die ist das ein Angebot. Viele Wiener kennen die vor allem von Auftritten von Andreas Gabalier“, sagt Zellmann.
Ganz so drastisch sieht es Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung nicht. „Veranstaltungen wie die Wiesn gehören zur postmodernen Kultur einfach dazu“, sagt Ikrath. „Ideologische Bedenken“derWiener gegenüber der Landbevölkerung gebe es jedenfalls nicht mehr.
Kostümierung
Bei jungen Wiesn-Besuchern gehe es vor allem darum, verschiedene Rollen auszuprobieren. „Es gilt nicht mehr als Widerspruch, ein urbaner Mensch zu sein und auch einmal Tracht zu tragen“, sagt Ikrath. Nur weil jemand die Wiener Wiesn oder den Neustifter Kirtag besucht, zeuge das nicht von seiner Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land. „Was dort stattfindet, ist eine Form der Kostümierung“, sagt Ikrath. „Oder des Rollenspiels.“
„Es gilt nicht mehr alsWiderspruch, ein urbaner Mensch zu sein und auch einmal Tracht zu tragen.“Philipp Ikrath
Institut für Jugendkulturforschung