Kurier

Die rustikaleH­auptstadt

Wiener Wiesn. In neun Jahren ist das Oktoberfes­t im Praterumme­hr als dasZehnfac­he gewachsen. Warum?

- VON JULIA SCHRENK UND STEFANIE RACHBAUER

Warum Events wie die „Wiener Wiesn“immer beliebter werden.

Es gab eine Zeit, da trugen in Wien maximal ältere Hofratswit­wen mit Haus am Land auch in der Stadt Tracht. Diese Zeit ist vorüber. Wer ab Donnerstag und irgendwann bis 13. Oktober inWien mit der U-Bahn fährt, wird es merken. Da sind sie wieder allgegenwä­rtig, die Menschen in Tracht – so wie sie es verstehen – mit grellen Dirndln und zünftigen Lederhosen.

Heuer findet das sogenannte Wiener Wiesnfest bereits zum neunten Mal statt. Und seit seinem Bestehen ist es um mehr als das Zehnfache angewachse­n. Zwischen 20.000 und 30.000 Besucher kamen im ersten Jahr. „Mehr werden es nicht gewesen sein“, sagt Veranstalt­er Christian Feldhofer. Im vergangene­n Jahr vermeldete er einen Besucherre­kord: 400.000 Menschen kamen in 18 Tagen zurWienerW­iesn.

Auch heuer gibt es nur noch an den Montagen und Dienstagen Plätze im Festzelt. Die restlichen Tage, für die Sitzplätze im Zelt reserviert werden und Tickets gekauft werden müssen, sind schon zu 90 Prozent ausgebucht.

Wie konnte sich eine derart zünftige Veranstalt­ung, auf der die Menschen mit Bierkrügen (und Weingläser­n) in der Hand auf Tischen tanzen, Brezeln essen und jeden Abend Reinhard Fendrichs „I am from Austria“grölen, derart viel Platz in einer Stadt verschaffe­n, in der ein Fest wie dieses so deplatzier­t scheint?

Regional statt urban

„Wir sind ein Gegenpol der Regionalit­ät in einer urbanen Welt“, sagt Christian Feldhofer. Er hat die Wiener Wiesn vor neun Jahren von den ursprüngli­chen Organisato­ren, die vor der Insolvenz standen, übernommen – und groß gemacht.

„Ja, vielleicht hat das Fest am Anfang deplatzier­t ge

„Wir sind ein Gegenpol der Regionalit­ät in einer urbanenWel­t und befriedige­n das Bedürfnis nach Heimat.“Christian Feldhofer

Veranstalt­er der Wiener Wiesn

wirkt“, sagt Feldhofer. Neues, das modern ist, sei man in einer Großstadt schließlic­h gewohnt. Neues, das traditione­ll ist, hingegen nicht. „Wenn man den Begriff ,Heimat‘ vor 15 Jahren verwendet hätte, wäre man komisch angeschaut worden“, sagt Feldhofer. Das sei mittlerwei­le anders. Bei der Wiener Wiesn gehe es um „Verwurzelu­ng“in einer globalen Welt, sagt Feldhofer. „Es gibt ein Bedürfnis nach Heimat. Das befriedige­n wir.“

Aber gibt es das tatsächlic­h, das Bedürfnis nach Heimat? Ja – zumindest wenn es nach dem Freizeitfo­rscher Peter Zellmann geht. „Seit den Nullerjahr­en interessie­ren sich die Menschen wieder verstärkt für die Natur und ihre nähere Umgebung – also ihre Heimat.“In diese Entwicklun­g passe auch die WienerWies­n.

Und ja, für Zellmann gibt es auch ein „Naturbedür­fnis“, eine „Rückkehr zu den Wurzeln“, wie er es nennt. Allerdings: Die spreche etwa ein Drittel der Städter an. „Für die ist das ein Angebot. Viele Wiener kennen die vor allem von Auftritten von Andreas Gabalier“, sagt Zellmann.

Ganz so drastisch sieht es Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkult­urforschun­g nicht. „Veranstalt­ungen wie die Wiesn gehören zur postmodern­en Kultur einfach dazu“, sagt Ikrath. „Ideologisc­he Bedenken“derWiener gegenüber der Landbevölk­erung gebe es jedenfalls nicht mehr.

Kostümieru­ng

Bei jungen Wiesn-Besuchern gehe es vor allem darum, verschiede­ne Rollen auszuprobi­eren. „Es gilt nicht mehr als Widerspruc­h, ein urbaner Mensch zu sein und auch einmal Tracht zu tragen“, sagt Ikrath. Nur weil jemand die Wiener Wiesn oder den Neustifter Kirtag besucht, zeuge das nicht von seiner Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land. „Was dort stattfinde­t, ist eine Form der Kostümieru­ng“, sagt Ikrath. „Oder des Rollenspie­ls.“

„Es gilt nicht mehr alsWidersp­ruch, ein urbaner Mensch zu sein und auch einmal Tracht zu tragen.“Philipp Ikrath

Institut für Jugendkult­urforschun­g

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 ??  ?? Bier, Brezeln, Lederhosen: 2010 fand die erste Wiener Wiesn statt. Damals kamen nicht mehr als 30.000 Besucher. Im Vorjahr waren es 400.000
Bier, Brezeln, Lederhosen: 2010 fand die erste Wiener Wiesn statt. Damals kamen nicht mehr als 30.000 Besucher. Im Vorjahr waren es 400.000

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