„Man lässt junge Menschen verkommen“
Engagierte Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde machen jetzt mit Nachdruck auf gravierende Mängel aufmerksam. Kassenärzte behandeln immer mehr Kinder aus bedürftigen Familien.
„Es ist alles in Ordnung, die Kinder sind stark verkühlt, aber mit Nasentropfen und Inhalieren sollte es ihnen bald besser gehen.“Kinderärztin Nicole Grois von der Kinderordination Wien-Alsergrund beruhigt die Eltern von Buna, 6 Monate, und Flori, 2 Jahre. Arbnore und Mehdi Krasniqi – sie stammen aus dem Kosovo und leben seit zehn bzw. fast sechs Jahren in Österreich – sind erleichtert. Auch darüber, dass sie immer zu Nicole Grois kommen können: „Wir wohnen im zehnten Bezirk und haben dort nach der Geburt von Flori drei Kinderärzte angefragt – aber sie nahmen alle keine neuen Patienten mehr auf.“Und für den EDV-Techniker Krasniqui „ist es als Alleinverdiener schwer, alle Arzttermine privat zu zahlen“. Ähnlich geht es Jelena Pavlovic, die mit ihren Kindern Igor (7 Monate), Marena (2 Jahre) und Gabriele (10) zu Kinderärztin Grois gekommen ist: „Mein Mann arbeitet bei der Post, ich bin zu Hause, Wahlärzte können wir uns mit einem Gehalt nicht leisten.“Nicole Grois ist die einzige Kassenkinderärztin im 9. Bezirk. Nur mehr rund 40 Prozent der Kinderärztinnen und -ärzte in Wien haben alle Kassen – 60 Prozent sind mittlerweile Wahlärzte.
„Wir haben schon längst eine Zwei-Klassen-Medizin für Kinder“, sagt Grois: „Zu mir kommen immer bedürftigere Familien: Kinder mit Fehlernährung, die zu Übergewicht und Karies führt, mit Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen und psychischen Erkrankungen – für all das haben Kinder aus sozial schwachen Familien, mit und ohne Migrationshintergrund, ein höheres Risiko.“
Ethisches Dilemma
Was sie als Ärztin dabei sehr belastet: „Ich sehe die Entwicklungsdefizite und weiß, welche Therapien notwendig sind. Aber die Wartezeiten darauf betragen Monate, oft Jahre. Ich telefoniere häufig
von einem Ambulatorium zum nächsten und niemand hat einen Platz.“Für sie und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen sei das „ein unglaubliches ethisches Dilemma“.
Die Arbeit mit diesen Familien fordert viel Kraft und Zeit: „Wir sollten Ernährungsberatung für die Eltern machen, aber auch über den Umgang mit Handy und Computer aufklären: Durch meine Ordination laufen oft hyperaktive Kinder, die ab dem Babyalter zu Hause den ganzen Tag mit elektronischen Medien ruhiggestellt werden – die kennen kein Buch.“
Schwer auszuhalten
Das sei aber kein Vorwurf an die Eltern: „Sie sind oft entwurzelt, traumatisiert, ohne Unterstützung und mit ihrem Überlebenskampf so beschäftigt, dass sie vollkommen überfordert sind. Es fehlt an unterstützenden Angeboten wie Elternbildung oder Ernährungsberatung.“Oft sei es für sie nur sehr schwer auszuhalten, wenn sie Kindern trotz aller Bemühungen keine Therapieplätze vermitteln kann. Hinzu komme, dass – trotz Erhöhungen – die Bezahlung niedrig sei. „Da darf es niemanden wundern, wenn sich immer weniger Kollegen das antun wollen – und Wahlärzte werden.“
Das Fazit von Grois: „Ich habe Kinder, wo jahrelang trotz dringender Notwendigkeit nichts passiert. Man lässt junge Menschen verkommen – vor unserer aller Augen. Da bräuchte es – ähnlich wie beim Klimaschutz – einen dringenden Weckruf.“
Die letzte Patientin an dem Tag ist die vierjährige Tasnim aus Somalia, die mit ihrer erwachsenen Schwester Lucky aus dem 21. Bezirk gekommen ist. Sie wird gemessen und gewogen. Viele Kinder sind bereits in ihrem Alter etwas zu schwer. Grois: „Für Menschen, die aus einem Land wie Somalia kommen, in dem man das Leitungswasser nicht trinken kann, sind verschlossene süße Säfte eine besondere Verlockung.“Die Kinderärztin nimmt sich Zeit für ein Gespräch mit Lucky: „Sie gibt das Wissen in ihrem Umfeld weiter – und möchte nach der Matura selbst einen Gesundheitsberuf ergreifen, aber dafür braucht sie unsere Unterstützung.“