Kurier

„Man lässt junge Menschen verkommen“

Engagierte Fachärzte für Kinder- und Jugendheil­kunde machen jetzt mit Nachdruck auf gravierend­e Mängel aufmerksam. Kassenärzt­e behandeln immer mehr Kinder aus bedürftige­n Familien.

- VON JOSEF GEBHARD, ERNST MAURITZ (TEXT) UND FRANZ GRUBER (FOTOS)

„Es ist alles in Ordnung, die Kinder sind stark verkühlt, aber mit Nasentropf­en und Inhalieren sollte es ihnen bald besser gehen.“Kinderärzt­in Nicole Grois von der Kinderordi­nation Wien-Alsergrund beruhigt die Eltern von Buna, 6 Monate, und Flori, 2 Jahre. Arbnore und Mehdi Krasniqi – sie stammen aus dem Kosovo und leben seit zehn bzw. fast sechs Jahren in Österreich – sind erleichter­t. Auch darüber, dass sie immer zu Nicole Grois kommen können: „Wir wohnen im zehnten Bezirk und haben dort nach der Geburt von Flori drei Kinderärzt­e angefragt – aber sie nahmen alle keine neuen Patienten mehr auf.“Und für den EDV-Techniker Krasniqui „ist es als Alleinverd­iener schwer, alle Arzttermin­e privat zu zahlen“. Ähnlich geht es Jelena Pavlovic, die mit ihren Kindern Igor (7 Monate), Marena (2 Jahre) und Gabriele (10) zu Kinderärzt­in Grois gekommen ist: „Mein Mann arbeitet bei der Post, ich bin zu Hause, Wahlärzte können wir uns mit einem Gehalt nicht leisten.“Nicole Grois ist die einzige Kassenkind­erärztin im 9. Bezirk. Nur mehr rund 40 Prozent der Kinderärzt­innen und -ärzte in Wien haben alle Kassen – 60 Prozent sind mittlerwei­le Wahlärzte.

„Wir haben schon längst eine Zwei-Klassen-Medizin für Kinder“, sagt Grois: „Zu mir kommen immer bedürftige­re Familien: Kinder mit Fehlernähr­ung, die zu Übergewich­t und Karies führt, mit Verhaltens­auffälligk­eiten, Entwicklun­gsverzöger­ungen und psychische­n Erkrankung­en – für all das haben Kinder aus sozial schwachen Familien, mit und ohne Migrations­hintergrun­d, ein höheres Risiko.“

Ethisches Dilemma

Was sie als Ärztin dabei sehr belastet: „Ich sehe die Entwicklun­gsdefizite und weiß, welche Therapien notwendig sind. Aber die Wartezeite­n darauf betragen Monate, oft Jahre. Ich telefonier­e häufig

von einem Ambulatori­um zum nächsten und niemand hat einen Platz.“Für sie und viele ihrer Kolleginne­n und Kollegen sei das „ein unglaublic­hes ethisches Dilemma“.

Die Arbeit mit diesen Familien fordert viel Kraft und Zeit: „Wir sollten Ernährungs­beratung für die Eltern machen, aber auch über den Umgang mit Handy und Computer aufklären: Durch meine Ordination laufen oft hyperaktiv­e Kinder, die ab dem Babyalter zu Hause den ganzen Tag mit elektronis­chen Medien ruhiggeste­llt werden – die kennen kein Buch.“

Schwer auszuhalte­n

Das sei aber kein Vorwurf an die Eltern: „Sie sind oft entwurzelt, traumatisi­ert, ohne Unterstütz­ung und mit ihrem Überlebens­kampf so beschäftig­t, dass sie vollkommen überforder­t sind. Es fehlt an unterstütz­enden Angeboten wie Elternbild­ung oder Ernährungs­beratung.“Oft sei es für sie nur sehr schwer auszuhalte­n, wenn sie Kindern trotz aller Bemühungen keine Therapiepl­ätze vermitteln kann. Hinzu komme, dass – trotz Erhöhungen – die Bezahlung niedrig sei. „Da darf es niemanden wundern, wenn sich immer weniger Kollegen das antun wollen – und Wahlärzte werden.“

Das Fazit von Grois: „Ich habe Kinder, wo jahrelang trotz dringender Notwendigk­eit nichts passiert. Man lässt junge Menschen verkommen – vor unserer aller Augen. Da bräuchte es – ähnlich wie beim Klimaschut­z – einen dringenden Weckruf.“

Die letzte Patientin an dem Tag ist die vierjährig­e Tasnim aus Somalia, die mit ihrer erwachsene­n Schwester Lucky aus dem 21. Bezirk gekommen ist. Sie wird gemessen und gewogen. Viele Kinder sind bereits in ihrem Alter etwas zu schwer. Grois: „Für Menschen, die aus einem Land wie Somalia kommen, in dem man das Leitungswa­sser nicht trinken kann, sind verschloss­ene süße Säfte eine besondere Verlockung.“Die Kinderärzt­in nimmt sich Zeit für ein Gespräch mit Lucky: „Sie gibt das Wissen in ihrem Umfeld weiter – und möchte nach der Matura selbst einen Gesundheit­sberuf ergreifen, aber dafür braucht sie unsere Unterstütz­ung.“

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Arbnore und Mehdi Krasniqi mit Buna und Flori (re.) sind erleichter­t
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Kinderärzt­in Nicole Grois: „Immer bedürftige­re Familien“

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