Ein Staatsmann voller Widersprüche
Jacques Chirac. Der soeben verstorbene Ex-Präsident schockte durch Atomtests im Pazifik und begeisterte mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs.
Selten verkörperte ein Politiker über derartig lange Zeit die tiefen und widersprüchlichen Trends einer Gesellschaft, wie der soeben im Alter von 86 Jahren verstorbene Jacques Chirac. Als Jugendlicher war er KP-naher Pazifist und US-Kritiker, der knapp darauf in den USA jobbte und dabei – damals eine Seltenheit für einen Franzosen – perfekt Englisch lernte. Danach machte er eine steile Karriere in den Reihen der bürgerlichen Volksbewegung, die General de Gaulle gegründet hatte und die den Staatsapparat in ihrem eisernen Griff hielt. Anfänglich eher national-eigenbrötlerisch, wandelte Chirac sich zum Befürworter der EU. Er war 18 Jahre lang Pariser Bürgermeister, zweimal Premierminister und zweimal Staatschef.
Welt-Buhmann
Gleich nach seinem ersten Amtsantritt als Präsident 1995 brachte er die Weltöffentlichkeit gegen sich auf, weil er – im Gegensatz zu seinem sozialistischen Vorgänger Francois Mitterrand – eine neue Serie von Atomwaffen-Tests im Pazifik startete. Aber während seines zweiten Mandats war er der entschiedenste Gegner des Irak-Kriegs von US-Präsident George Bush. In der arabischen Welt und namentlich in Frankreichs Ex-Kolonie Algerien, in der er einst als Offizier der Besatzungsarmee gedient hatte, wurde er für sein Engagement gegen den Irak-Krieg und für seine Kritik an der Besatzungspolitik Israels in Palästina gefeiert. Chirac war aber auch der erste französische Staatschef, der – bei seinem Amtsantritt 1995 – die Beihilfe der französischen Behörden bei der Deportation der Juden während der deutschen Besetzung Frankreichs als „untilgbare Schuld“ brandmarkte. 2002 wurde er mit über 82 Prozent wieder gewählt, als er bei der Stichwahl dem RechtsaußenTribun Jean-Marie Le Pen gegenüberstand.
Gegen Rechtspopulismus
Chirac hatte sich bereits zuvor gegen den Rechtspopulismus gestemmt: nach Regionalwahlen 1998, bei denen der „Front National“(FN) von Le Pen beachtliche Ergebnisse eingefahren hatte, verhinderte Chirac Koalitionen zwischen seinem Lager und dem FN. Als in Wien, im Februar 2000, die ÖVP mit der Haider-FPÖ eine Koalition einging, gehörte Chirac zu den Initiatoren des diplomatischen Boykotts der schwarz-blauen Regierung durch die übrigen EU-Staaten (siehe dazu nebenstehenden Artikel).
In wirtschaftspolitischen Belangen suchte Chirac den Ausgleich mit der Linksopposition und kritisierte den neoliberalen Kurs der Briten und USA. Für seinen Rivalen im eigenen Lager, Nicolas Sarkozy, der ihn 2007 als Staatschef beerben sollte, war diese Haltung Ausdruck ängstlicher Passivität, weshalb er Chirac als „faulen König“verhöhnte.
Zum Schluss wurde Chirac von Affären, die auf seine Amtszeit als Pariser Bürgermeister zurückgingen, eingeholt: 2011 wurde er zu zwei Jahren bedingt verurteilt.
Die Rache seiner Frau
Aber diese Enthüllungen konnten seiner späten Popularität kaum etwas anhaben. In den letzten Jahren gab es die übliche nostalgische Verklärung für einen verflossenen Staatsmann, dem volkstümliches Auftreten und soziale Rücksichtnahme nachgesagt wurden. Am härtesten ging noch seine Frau, die Adelige Bernadette Chodron de Courcel, mit ihm ins Gericht. Als Chirac bereits zum Pflegefall geworden war, rächte sie sich für seine einstigen zahllosen Seitensprünge mit Sprüchen wie: „Jetzt geht Madame aus, und Monsieur hütet das Haus.“Die beiden pflegten einen verschrobenen Umgangston: Bernadette und Jacques waren untereinander per „Sie“. Das war umso seltsamer, als Jacques Chirac ansonsten durch besonders unkomplizierte Manieren auffiel: „Chirac ist der Typ, der außer mit seiner Frau mit aller Welt per Du ist“, witzelte ein Freund.
Für Frankreichs amtierenden Staatschef Emmanuel Macron, der sich Dienstag in einer Traueransprache an die Nation wandte, haben Vergleiche mit Chirac einen bitteren Beigeschmack: die Erinnerung an die leutselige Art des Verstorbenen wirkt als krasser Gegensatz zu den arrogant wirkenden Sprüchen, die sich Macron gelegentlich leistet.