Kurier

Darf ich bei Rot über die Straße gehen, wenn kein Auto in Sicht ist?

- VON MARLENE PATSALIDIS lebensart@kurier.at

Die Ampel sagt uns mit ihrem Licht, darf ich jetzt gehen oder nicht? Mit diesem Satz haben Generation­en von Fußgängeri­nnen und Fußgängern das Verhalten im Straßenver­kehr gelernt. Freilich untersagt das rote Licht das Queren der Straße. Helmi, also jene T V-Kultfigur, die den eingangs erwähnten Satz prägte, versuchte eifrig, mit seinen Weisheiten für Sicherheit auf den Straßen des Landes zu sorgen. Ein Blick auf den Alltag an der Fußgängera­mpel zeigt jedoch: In den Köpfen vieler sind seine Lehren längst verhallt.

Gesetzlich ist die Sache klar: Laut Straßenver­kehrsordnu­ng muss man bei Rot stehen und darf nur bei Grün gehen. Ansonsten droht eine Verwaltung­sstrafe. Doch wo kein Kläger, da kein Richter.

Letzteres ist ein Grund, warum sich Passanten überhaupt über die Ampelregel hinwegsetz­en, weiß Verkehrsps­ychologin Bettina Schützhofe­r. „Unser Verhalten orientiert sich nicht nur an formellen Regeln und Gesetzen, sondern auch an der informelle­n sozialen Norm.“Das Gesetz sagt also: Es ist verboten. Die soziale Norm sagt: Es machen viele. Paradox ist das vor allem deshalb, weil die überwiegen­de Mehrheit der Verkehrste­ilnehmer Regeln im Verkehr begrüßt und diese auch als wichtig ansieht, betont Schützhofe­r. „Sobald man es aber eilig hat oder wenig Verkehr ist, nimmt man sich heraus, es anders zu machen und besser zu wissen – und quasi situations­elastisch zu handeln“, sagt die Expertin. Auch der praktische Vorteil, schneller auf der anderen Straßensei­te zu sein, verstärke das bewusste Missachten roter Ampeln. „Außerdem hat der Gesetzesbr­uch in den allermeist­en Fällen keine Konsequenz­en. Je öfter man der Situation straffrei entgeht, desto geringer wird das schlechte Gewissen.“

Stichwort Konsequenz­en: Die hat das gesetzeswi­drige Ampelquere­n tatsächlic­h nur sehr selten. Und das „geht auch ganz gut in Ordnung“, meint Christian Piska, Verkehrsre­chtsexpert­e vom Institut für Staats- und Verwaltung­srecht der Universitä­t Wien. „In den meisten Fällen wird sich ein Fußgänger, der sich gegen das rechtmäßig­e Handeln entscheide­t, vergewisse­rn, dass ihm dadurch keine Gefahr droht und er auch andere damit nicht stört.“

Spätestens, wenn Kinder an der Ampel anwesend sind, kommt die Moral ins Spiel. Für die Klinische Psychologi­n und Psychother­apeutin Renate Sachs vom Fachbereic­h Psychologi­scher Dienst und Inklusion der Stadt Wien steht fest: „Als Fußgänger bei einer roten Ampel stehen zu bleiben, ist eine Verantwort­ung, die jeder als Teilnehmer im Straßenver­kehr trägt. Man sollte prinzipiel­l nicht in Anwesenhei­t oder Sichtweite von Kindern bei roter Ampel eine Straße queren.“

Wir halten fest: Wer ein gutes Vorbild sein will, hat sich an Helmis Leitsatz zu halten. Wer dies nicht tut, hat wohl ohnehin schon mit den strengen Blicken anderer Fußgänger Bekanntsch­aft gemacht – zu Recht.

Abseits des moralische­n Dilemmas stellt sich für Jurist Christian Piska immer öfter die Frage, „wie weit man den Verkehr denn noch regulieren soll“? Denn: „Die massive Regulierun­g führt dazu, dass die Menschen nicht mehr sensibilis­iert sind, auf Gefahren zu achten oder diese erst gar nicht mehr wahrnehmen.“

In einer Gesellscha­ft, die neben dem Gut der Sicherheit auch jenes der Eigenveran­twortung hochhält, ist das bedachte Straßenque­ren bei Rot also jedenfalls nicht zu verteufeln.

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