Darf ich bei Rot über die Straße gehen, wenn kein Auto in Sicht ist?
Die Ampel sagt uns mit ihrem Licht, darf ich jetzt gehen oder nicht? Mit diesem Satz haben Generationen von Fußgängerinnen und Fußgängern das Verhalten im Straßenverkehr gelernt. Freilich untersagt das rote Licht das Queren der Straße. Helmi, also jene T V-Kultfigur, die den eingangs erwähnten Satz prägte, versuchte eifrig, mit seinen Weisheiten für Sicherheit auf den Straßen des Landes zu sorgen. Ein Blick auf den Alltag an der Fußgängerampel zeigt jedoch: In den Köpfen vieler sind seine Lehren längst verhallt.
Gesetzlich ist die Sache klar: Laut Straßenverkehrsordnung muss man bei Rot stehen und darf nur bei Grün gehen. Ansonsten droht eine Verwaltungsstrafe. Doch wo kein Kläger, da kein Richter.
Letzteres ist ein Grund, warum sich Passanten überhaupt über die Ampelregel hinwegsetzen, weiß Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer. „Unser Verhalten orientiert sich nicht nur an formellen Regeln und Gesetzen, sondern auch an der informellen sozialen Norm.“Das Gesetz sagt also: Es ist verboten. Die soziale Norm sagt: Es machen viele. Paradox ist das vor allem deshalb, weil die überwiegende Mehrheit der Verkehrsteilnehmer Regeln im Verkehr begrüßt und diese auch als wichtig ansieht, betont Schützhofer. „Sobald man es aber eilig hat oder wenig Verkehr ist, nimmt man sich heraus, es anders zu machen und besser zu wissen – und quasi situationselastisch zu handeln“, sagt die Expertin. Auch der praktische Vorteil, schneller auf der anderen Straßenseite zu sein, verstärke das bewusste Missachten roter Ampeln. „Außerdem hat der Gesetzesbruch in den allermeisten Fällen keine Konsequenzen. Je öfter man der Situation straffrei entgeht, desto geringer wird das schlechte Gewissen.“
Stichwort Konsequenzen: Die hat das gesetzeswidrige Ampelqueren tatsächlich nur sehr selten. Und das „geht auch ganz gut in Ordnung“, meint Christian Piska, Verkehrsrechtsexperte vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. „In den meisten Fällen wird sich ein Fußgänger, der sich gegen das rechtmäßige Handeln entscheidet, vergewissern, dass ihm dadurch keine Gefahr droht und er auch andere damit nicht stört.“
Spätestens, wenn Kinder an der Ampel anwesend sind, kommt die Moral ins Spiel. Für die Klinische Psychologin und Psychotherapeutin Renate Sachs vom Fachbereich Psychologischer Dienst und Inklusion der Stadt Wien steht fest: „Als Fußgänger bei einer roten Ampel stehen zu bleiben, ist eine Verantwortung, die jeder als Teilnehmer im Straßenverkehr trägt. Man sollte prinzipiell nicht in Anwesenheit oder Sichtweite von Kindern bei roter Ampel eine Straße queren.“
Wir halten fest: Wer ein gutes Vorbild sein will, hat sich an Helmis Leitsatz zu halten. Wer dies nicht tut, hat wohl ohnehin schon mit den strengen Blicken anderer Fußgänger Bekanntschaft gemacht – zu Recht.
Abseits des moralischen Dilemmas stellt sich für Jurist Christian Piska immer öfter die Frage, „wie weit man den Verkehr denn noch regulieren soll“? Denn: „Die massive Regulierung führt dazu, dass die Menschen nicht mehr sensibilisiert sind, auf Gefahren zu achten oder diese erst gar nicht mehr wahrnehmen.“
In einer Gesellschaft, die neben dem Gut der Sicherheit auch jenes der Eigenverantwortung hochhält, ist das bedachte Straßenqueren bei Rot also jedenfalls nicht zu verteufeln.
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