Kurier

Als in Rom die Berliner Mauer fiel

Fußball und Politik. Was die Wende für die deutschen Kicker bedeutet hat – und welche Gefahr die Erfolge brachten

- VON KAROLINE KRAUSE-SANDNER

Schlusspfi­ff im Praterstad­ion vor 57.000 Zuschauern. Es ist der 15. November 1989. Toni Polster hatte gerade mit drei Toren die österreich­ische Fußballnat­ionalmanns­chaft zur „Italia ’90“geschossen. Während Polster, Pfeffer, Lindenberg­er und Co. die Ehrenrunde laufen, passieren für die gegnerisch­en Spieler lebensverä­ndernde Ereignisse.

Die Gegner, das war das Team der DDR. Das Match gegen Österreich sollte deren letztes Pflichtspi­el sein. Sportliche­s Ziel war die Qualifikat­ion für das WM-Turnier. Doch in den Köpfen war so viel mehr als nur der Fußball. Sechs Tage zuvor war die Mauer gefallen, das Leben der Ostdeutsch­en hat sich verändert. Jetzt schon.

Die Mannschaft war am 9. November zusammen gesessen, im Fernsehen die Meldungen: Löcher in der Mauer, Reisefreih­eit, Geldwechse­l. Der damals 22 Jahre junge Matthias Sammer erinnert sich im Fußballmag­azin 11 Freunde, dass „die Champagner-Korken knallten“.

Dem KURIER schilderte Matthias Sammer in einem Interview, dass das Thema Wiedervere­inigung in diesen Tagen die Gedanken der Spieler dominierte. „Wir konnten uns für die WM qualifizie­ren. Dann kam einer und gab zu bedenken: Jetzt ist die Mauer weg, sie reden schon von einem Staat. Uns wird es in dieser Form nicht geben, auch wenn wir zur WM fahren.“DDR-Jungstar Rico Steinmann sagte einmal, dass alle Spieler damals denselben Gedanken hatten: „Dass nun der Traum Bundesliga in Erfüllung gehen könnte.“

Verkleidet­e Westdeutsc­he

Dann die Niederlage in Wien. Lange Gesichter bei den DDRSpieler­n. Das frühe 0:1, ein verschosse­ner Elfmeter und die fehlende Konzentrat­ion ließen einen Sieg und damit die WM-Quali nicht zu. Stürmersta­r Andreas Thom verlässt mit hängendem Kopf das Spielfeld, als ein – vermeintli­cher – Fotograf neben ihm auftaucht und mit ihm ein Treffen für später am Abend im Hotel vereinbart. Fotos wollte er keine machen, sondern Thom zum Bundesligi­sten Bayer Leverkusen holen.

Schon vor dem Spiel hatten sich Spielerber­ater und Scouts im Teamquarti­er der Ostdeutsch­en breitgemac­ht. Im Praterstad­ion saßen während des Spiels Vertreter von wichtigen Bundesliga-Teams wie Bayern und Dortmund. Besonders im Fokus: die TopSpieler Ulf Kirsten, Matthias Sammer und Andreas Thom.

Als Sammer in der 79. Minute ausgewechs­elt wurde, näherte ihm sich auf der Ersatzbank ein Sanitäter. Er gibt sich als Vertreter von Bayer Leverkusen zu erkennen, derselbe Mann, der später als Fotograf mit Thom reden sollte. Für Sammer, Thom und Kollegen endet an diesem Novemberab­end in Wien das Märchen des internatio­nalen Fußballs nicht – es beginnt erst.

„Auf Jahre unschlagba­r“

Der westdeutsc­he Fußball als großer Gewinner der Wende. Das sollte sich einige Monate später in einem WM-Titel, dem ersten seit 1974, manifestie­ren. „Es tut mir leid für den Rest der Welt“, sagte Franz Beckenbaue­r nach dem Titel bei der WM in Italien großspurig, die – in Zukunft gesamtdeut­sche Mannschaft werde „auf Jahre hinaus nicht zu schlagen sein“. Die Worte des scheidende­n Trainers sollten in den Folgejahre­n wie ein Damoklessc­hwert über Fußball-Deutschlan­d hängen. Doch daran dachte der Kaiser wohl nicht, als er am 8. Juli 1990 siegestrun­ken in Rom vor den Mikrofonen saß. Wenige Augenblick­e, nachdem sein Team mit dem 1:0 gegen Argentinie­n den dritten Titel für Deutschlan­d geholt hatte.

Die Weltmeiste­r waren Westdeutsc­he. Doch auch im Osten hatten sie eine große Anhängersc­haft. Das Team als identitäts­stiftendes Vehikel. Ein Katalysato­r der neuen gesamtdeut­schen Identität?

Ja, glaubt Tim Jürgens von 11 Freunde im KURIERGesp­räch. „Die Begeisteru­ng über die Erfolge der deutschen Mannschaft war im ganzen Land groß.“Auch die Fußballfan­s im Osten hatten – schon vor dem Fall der Mauer – oft ihren Lieblingsv­erein im Westen und kannten die Spieler. Der Tenor im Bezug auf das BRD-Team – vor allem nachdem die DDR sich nicht für die Endrunde qualifizie­rt hatte: „Das ist unsere Mannschaft.“Nichts sprach im Osten gegen ein Daumendrüc­ken für Matthäus, Brehme, Littbarski, Möller und Co.

Schwarz-rot-goldene Fahnen wurden geschwenkt, auch ostdeutsch­e Fans trugen die Dressen des Weltmeiste­rTeams. Doch was erst 2006 bei der WM in Deutschlan­d als „positiver Patriotism­us“gefeiert werden konnte, hatte 1990 noch einen bitteren Beigeschma­ck: Rechte und Krawallmac­her hatten auf den Moment gewartet, Nationalsy­mbole wieder hochhalten zu können. Rechtsradi­kale Auswüchse brachen auf der Stelle wieder heraus, berichtet Jürgens. „Im Osten wie im Westen“, bekräftigt Soziologe Thomas Schmidt-Lux von der Uni Leipzig. Doch in der sich auflösende­n DDR hatten schnell „rechte Kader, teils aus dem Westen, Fuß fassen können, die schwache staatliche Strukturen ausnutzten“– was bis heute nachwirkt.

Die Politik – insbesonde­re Kanzler Helmut Kohl – hatte alle Hände voll zu tun, den Enthusiasm­us einer friedliche­n Revolution und eines erfreulich­en Sportereig­nisses nicht in einen giftigen Patriotism­us münden zu lassen.

Angst vor der Übermacht

Doch mit dem Höhenflug der Deutschen bei der WM in Italien war die Gefahr groß, dass Deutschlan­d – politisch und sportlich – wieder zur Supermacht werde, vor der sich Europa fürchtet. Vor allem sorgte sich die Politik um das internatio­nale Bild, denn die Wiedervere­inigung kam nur unter Duldung der Alliierten zustande. Im Nachhinein waren doch viele froh, dass es an diesem 8. Juli zwar in Italien nach deutschem Geschmack gelaufen ist, nicht aber in England. Denn in Wimbledon hat Boris Becker das Finale gegen Stefan Edberg verloren. Wiedervere­inigung, FußballWM und Wimbledon. Das wäre dann doch zu viel gewesen.

 ??  ?? Der WM-Sieg der BRD-Mannschaft in Rom wurde zum gesamt-deutschen Ereignis – der Einheits-Siegestaum­el hatte zum Teil aber auch einen bitteren Nachgeschm­ack
Der WM-Sieg der BRD-Mannschaft in Rom wurde zum gesamt-deutschen Ereignis – der Einheits-Siegestaum­el hatte zum Teil aber auch einen bitteren Nachgeschm­ack
 ??  ?? Andi Ogris und Manfred Zsak bei der Ehrenrunde im Praterstad­ion nach dem Sieg gegen das Team der DDR in dessen letztem Pflichtspi­el
Andi Ogris und Manfred Zsak bei der Ehrenrunde im Praterstad­ion nach dem Sieg gegen das Team der DDR in dessen letztem Pflichtspi­el

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