Kurier

Ernst Jandl: „Der Bub bleibt in der Schule“

Dankbar. Weil zwei Lehrer an ihn glaubten, durfte Erwin Greiner maturieren. Er erinnert sich

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Erwin Greiner, Jahrgang 1949, erzählt: „Wir hatten ab der 3. Klasse Katharina Sladek – sie war das Gegenteil meiner ersten Lehrerin, die mit Demütigung­en und Ohrfeigen arbeitete. Sladek versuchte, jedes Kind in seinen Stärken zu fördern und war unglaublic­h motivieren­d. Sie war es, die 1958 meine alleinerzi­ehende, meist arbeitslos­e Mutter überredete, mich für die Aufnahmspr­üfung am heutigen Realgymnas­ium Waltergass­e im 4. Bezirk in Wien anzumelden, die ich auch bestand.

Klassenvor­stand sowie Deutsch- und Englischle­hrer war dort Ernst Jandl, damals als Lyriker noch unbekannt. Aus späteren Gesprächen weiß ich, dass er diesen Beruf nicht sonderlich gerne ausgeübt hat. Umso bemerkensw­erter ist, wie er das – zumindest in meinem Erleben – getan hat. In der 2. Klasse musste jeder ein Referat halten. Ich, als Fußballnar­r, wählte ‚Die Geschichte des Fußballspo­rts in Österreich‘ – ein Thema, das nicht zu Jandls Top-Interessen­sgebieten zählte. Dementspre­chend unsicher war ich, wie mein Referat ankommen würde. Sein Kommentar: ‚Ich habe zwar nach wie vor keine Ahnung von Fußball, aber das liegt an mir, nicht an deinem Referat. Sehr gut.‘

Am Anfang der 4. Klasse machte meine Mutter klar, dass ich die Schule beenden müsste. Das war nachvollzi­ehbar – erlebte ich doch jeden Tag, was für ein Kampf ums Überleben der Alltag für meine Mutter war. Dennoch machte mich diese Ankündigun­g sehr traurig, da ich mich in der Schule sehr wohl fühlte und eine Geborgenhe­it erlebte, die ich zu Hause in unserer 20 m2-Substandar­dwohnung nicht empfand. Ich erzählte Jandl davon.

Vorladung

Er lud meine Mutter zum Gespräch ein. Genauer gesagt, er lud sie vor. Jandl konnte sehr bestimmt auftreten, weshalb meine Mutter auch der Aufforderu­ng ‚Sie nehmen den Buben nicht aus der Schule, der kann was‘ folgte.

Ohne den Einsatz meiner beiden Lehrkräfte wäre mein Start ins Leben wohl anders verlaufen. Möglicherw­eise wäre es auch ein guter Start gewesen, aber nicht jener, der es mir ermöglicht­e, selbst Pädagoge zu werden – ein Beruf, der mir Zeit meiner Laufbahn viel Freude gemacht hat. Ich bin froh, dass ich mich bei beiden noch zu ihren Lebzeiten bedanken konnte.

Es gibt so manches an unserem Bildungssy­stem zu kritisiere­n, aber es erfüllt mich mit Zuversicht, wenn ich miterleben darf, wie viele Pädagogen sich mit großem Engagement dafür einsetzen, dass Kinder aus benachteil­igten Verhältnis­sen faire Bildungsch­ancen bekommen.“

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