Volltreffer: Ein Faust aufs Auge
Kritik. Martin Kušejs gewaltige Münchner Inszenierung ist im Burgtheater angekommen
In Goethes dramatischem Gewaltakt „Faust“finden die Deutschen seit 200 Jahren einen Spiegel, in den sie gerne hineinschauen: Ein Tatmensch, der – Maßlosigkeit und romantischer Überspanntheit nicht abgeneigt – ohne Atem zu holen dem Fortschritt entgegentaumelt und dabei mit des Teufels Hilfe auch dann Gutes schafft, wenn er Böses will.
Der dabei zwar gröbere Sach- bis Personenschäden hinterlässt, aber letztlich strebend sich bemühend vom ewig Weiblichen ins Paradies hinangezogen wird.
(Es wäre einmal interessant, einen österreichischen Faust zu inszenieren, einen schlampigen, gemütlichen, sich mit Ankündigungen begnügenden ...)
Auf der Flucht
Es ist eine der Stärken der hinreißenden „Faust“-Inszenierung des neuen Burgtheater-Direktors Martin Kušej, dass sie mit dieser Aufführungstradition radikal, ohne mit der Wimper zu zucken, bricht. Dieser „Faust“– 2014 in München auf die Bühne gebracht, jetzt im Burgtheater angekommen – steht für den postmodernen, postideologischen Menschen, der Ruhe nicht mehr erträgt, weil er sich selbst nicht erträgt. Er ist unablässig in Bewegung, weil er der Leere in sich selbst davonlaufen muss.
Die Inszenierung beginnt mit dem Philemon-und-Baucis-Motiv aus „Faust II“: Zwei alte Menschen müssen weichen, weil sie der Rastlosigkeit eines Täters im Weg stehen, der hier eher wie ein Mafia-Häuptling erscheint denn als Modernisierer, der Land aus dem Meer gewinnen will.
Hoch wie nie
Danach erleben wir, wie Faust durch rasch wechselnde Szenen rast, Drogen, Sex, Gewalt, nichts bringt Befriedigung. Seinen Selbstmord verhindert hier auch nicht das Glockenläuten (Gott ist in dieser Inszenierung nicht anwesend, Mephisto regiert die Erde alleine), sondern Fausts Kollege Wagner, der Faust die Faust in den Rachen steckt und ihn zum Erbrechen bringt.
So gewaltbereit sich Kušej durch diese Szenen arbeitet (teilweise an Tarantino erinnernd, viele berühmte Zitate verweigernd), so zart und fast konventionell erzählt er zwischendurch die Gretchen-Tragödie. Diese überaus gelungene Inszenierung bietet gewaltige Bilder (Bühne: Aleksandar Denić) und packende Rhythmuswechsel, sie hat Wucht und Power, aber auch hohe poetische Kraft.
Dance Mephisto
In ihrem Mittelpunkt steht die furiose, schlicht atemberaubend gute Bibiana Beglau als Mephisto, der sich selbst die Engelsflügel ausreißt und danach blutend und bei aller Verführungskraft fast verwundert zwischen den menschlichen Absonderlichkeiten tänzelt.
Werner Wölbern ist ein sehr aktueller Faust, er könnte auch ein zeitgenössischer Wirtschaftskapitän ohne Skrupel und Gewissen sein. Manchmal wünscht man dieser Figur ein wenig mehr Charisma, manchmal wirkt dieser Faust fast zu spießig und harmlos.
Andrea Wenzl spielt ein zutiefst berührendes Gretchen, Alexandra Henkel ist eine erotisch entgleisende Marthe, Marie-Luise Stockinger eine sexuell dienstbare, sehr komische Hexe. Auch in allen übrigen Rollen wird hervorragend gearbeitet.
Maschine brennt
Am Ende des drei Stunden dauernden Abends – der die ganz große Theatermaschine anwirft – steht nicht die Erlösung durch das „ewig Weibliche“, sondern „ewige Leere“.
Großer Jubel, ein paar Buhs für Kušej.