Acht Tage als Böhmer-Mann
Der „Weg der Entschleunigung“lockt Wanderer in den Böhmerwald in Oberösterreich. In seiner längsten Variante lassen sich acht Tage lang die schönsten Flecken der Mühlviertler Hügellandschaft entdecken
Frühmorgens, die Wolken hängen tief. Das bisserl Nieselregen ignorierend, brechen meine Frau und ich zum siebenten Tagesmarsch am „Weg der Entschleunigung“auf. Heute steht der Höhepunkt der sich 133 km durch den Böhmerwald schlängelnden Route auf dem Programm: der als famos angekündigte Ausblick vom 1.379 Meter
hohen Plöckenstein auf das Mühlviertel. Sogar bis zu den fernen Alpen soll von dort oben der Blick reichen.
Wir passieren die Teufelsschüssel, eine imposante Felsformation, auf der sich einer Sage nach die Teufel und Hexen bei Vollmond trafen und sich als Tintifaxe übten. Realistischer scheint jedoch, dass Obelix hier seine ausrangierten Hinkelsteine abgelegt hat. 300 Höhenmeter später führt uns der steinige Weg Richtung Plöckenstein auf den Bergrücken, wo am „Dreiecksmark“die Landesgrenzen von Österreich, Deutschland und Tschechien punktgenau aufeinandertreffen. Hier zeigt sich der Böhmerwald von seiner schütteren Seite: Im Jahr 2006 hat der Sturm Kyrill, nach gründlicher Vorarbeit der Borkenkäfer, eine dystopisch anmutende Landschaft hinterlassen – vom einstigen Fichtenwald blieben nur Stummel zurück. Tausendfach. Baum-Umarmer und Förster könnten angesichts dieser Szenerie spontan eine Depression aufreißen, für alle anderen hat das Fichten-Mikado sein Gutes: freie Sicht!
Zumindest in der Theorie. Denn am besagten Höhepunkt-Tag zeigt sich uns der Konjunktiv als treuer Wegbegleiter: Es waschelt ohne Unterlass, die Wolken ziehen nicht ab, sondern wir durch sie hindurch. So stehen Frau und Herr Gipfelstürmer, mit unseren über die Rucksäcke gestülpten Ponchos wie Schildkröten auf zwei Beinen aussehende Fabelwesen, am Gipfel und sehen: nichts.
Was tun? Unseren verflixten 7. Tag zum persönlichen Weitwander-Weltschmerztag erklären? Die Wanderstöcke in John-McEnroe-Manier gegen das Gipfelkreuz dreschen, um zu ergründen, ob der Punkt am Ende an das Holz oder das Carbon geht?
Mitnichten. Wir entschleunigen unsere Enttäuschung, marschieren weiter und freuen uns darauf, was der nächste Tag wohl bringen wird. Weitwanderer wissen davon ein Lied zu singen: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“Wer sich tage- oder wochenlang in die Natur eingliedert, der liefert sich damit auch der Willkür der freien Wildbahn aus. Positiver formuliert: all den Überraschungen und Wendungen, die da draußen warten. In unserem Fall folgt die Wende-Pointe gleich am nächsten Tag: Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel, auf dem Stinglfelsen (1.260 Meter) genießen wir eine Fernsicht, die uns trotz Wandererlungen den Atem raubt. In Momenten wie diesen reduziert sich die Last des Rucksacks auf Federgewicht – Glückshormone erleichtern vieles.
Idealer Einstieg ins Weitwandern
Keine Sorge, die Abzweigung zur spirituellen Erleuchtung am Wegesrand wird links liegen gelassen – auch wenn der „Weg der Entschleunigung“vom Tourismusverband als „Rundweg zu den uralten Kraft- und Energieplätzen der Region“angepriesen wird, Qigong-Übungen wie „Wolken teilen“inklusive. (Okay, an Tag 7 hätte uns das helfen können.) Jeder soll glauben, was er möchte. Fernab aller Überzeugungsfragen, bietet dieser in drei Varianten begehbare Rundweg (4 Tage/60 km, 6 Tage/ 97 km, 8 Tage/133 km) einen auch für Weitwander-Einsteiger geeigneten Streckenverlauf, der die sanfte Hügellandschaft des Mühlviertels durchzieht und dank seiner Vielfalt auf jeder Tagesetappe Abwechslung bietet. Einmal marschiert man entlang der Flussläufe der Steinernen oder Großen Mühl, andernorts scheinen die seit Jahrmillionen stoisch ruhenden GranitMonolithe den Fluss der Zeit anzuhalten.
Nebst malerischer Natur und von Menschenhand geschaffenen Finessen (von den Saumaisen bis zu den Leinölerdäpfeln) liefert die BöhmerwaldRunde einen Extra-Bonus: Einsamkeit. Wiewohl der Weg von Städtchen (Haslach, Aigen-Schlägl) und Dörfern (von Minihof bis Keppling) gesäumt ist, ist man die meiste Zeit allein auf weiter Flur.
Zwei lohnenswerte Abweichungen vom Streckenplan: Da uns der von einem Aussichtsturm erhaschte Blick auf den Moldau-Stausee aus den Wandersocken katapultiert hat, haben wir nach der Übernachtung in Holzschlag (Tag 8) die Strecke um einen etwa 16 km weiten Abstecher ins tschechische Bližší Lhota verlängert. Das Aparthotel „Knížecí cesta“(ehemals Jagdschloss von Fürst Schwarzenberg) ist dafür ein ideal gelegener Übernachtungsort.
Als Start- und Zielort der Rundwanderung wählten wir – Glaubensrichtung: praktizierende Genusswanderer – nicht Aigen-Schlägl, sondern das Naturund Vitalhotel „Inns Holz“in Schöneben. Nach einem 160-km-Marsch drei Tage im romantischen Chalet mitsamt eigener Sauna zu verbringen, da darf sich glücklich schätzen, wer nicht vergisst. ●