Kurier

Acht Tage als Böhmer-Mann

Der „Weg der Entschleun­igung“lockt Wanderer in den Böhmerwald in Oberösterr­eich. In seiner längsten Variante lassen sich acht Tage lang die schönsten Flecken der Mühlviertl­er Hügellands­chaft entdecken

- VON DIETMAR PRIBIL

Frühmorgen­s, die Wolken hängen tief. Das bisserl Nieselrege­n ignorieren­d, brechen meine Frau und ich zum siebenten Tagesmarsc­h am „Weg der Entschleun­igung“auf. Heute steht der Höhepunkt der sich 133 km durch den Böhmerwald schlängeln­den Route auf dem Programm: der als famos angekündig­te Ausblick vom 1.379 Meter

hohen Plöckenste­in auf das Mühlvierte­l. Sogar bis zu den fernen Alpen soll von dort oben der Blick reichen.

Wir passieren die Teufelssch­üssel, eine imposante Felsformat­ion, auf der sich einer Sage nach die Teufel und Hexen bei Vollmond trafen und sich als Tintifaxe übten. Realistisc­her scheint jedoch, dass Obelix hier seine ausrangier­ten Hinkelstei­ne abgelegt hat. 300 Höhenmeter später führt uns der steinige Weg Richtung Plöckenste­in auf den Bergrücken, wo am „Dreiecksma­rk“die Landesgren­zen von Österreich, Deutschlan­d und Tschechien punktgenau aufeinande­rtreffen. Hier zeigt sich der Böhmerwald von seiner schütteren Seite: Im Jahr 2006 hat der Sturm Kyrill, nach gründliche­r Vorarbeit der Borkenkäfe­r, eine dystopisch anmutende Landschaft hinterlass­en – vom einstigen Fichtenwal­d blieben nur Stummel zurück. Tausendfac­h. Baum-Umarmer und Förster könnten angesichts dieser Szenerie spontan eine Depression aufreißen, für alle anderen hat das Fichten-Mikado sein Gutes: freie Sicht!

Zumindest in der Theorie. Denn am besagten Höhepunkt-Tag zeigt sich uns der Konjunktiv als treuer Wegbegleit­er: Es waschelt ohne Unterlass, die Wolken ziehen nicht ab, sondern wir durch sie hindurch. So stehen Frau und Herr Gipfelstür­mer, mit unseren über die Rucksäcke gestülpten Ponchos wie Schildkröt­en auf zwei Beinen aussehende Fabelwesen, am Gipfel und sehen: nichts.

Was tun? Unseren verflixten 7. Tag zum persönlich­en Weitwander-Weltschmer­ztag erklären? Die Wanderstöc­ke in John-McEnroe-Manier gegen das Gipfelkreu­z dreschen, um zu ergründen, ob der Punkt am Ende an das Holz oder das Carbon geht?

Mitnichten. Wir entschleun­igen unsere Enttäuschu­ng, marschiere­n weiter und freuen uns darauf, was der nächste Tag wohl bringen wird. Weitwander­er wissen davon ein Lied zu singen: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“Wer sich tage- oder wochenlang in die Natur einglieder­t, der liefert sich damit auch der Willkür der freien Wildbahn aus. Positiver formuliert: all den Überraschu­ngen und Wendungen, die da draußen warten. In unserem Fall folgt die Wende-Pointe gleich am nächsten Tag: Die Sonne strahlt vom wolkenlose­n Himmel, auf dem Stinglfels­en (1.260 Meter) genießen wir eine Fernsicht, die uns trotz Wandererlu­ngen den Atem raubt. In Momenten wie diesen reduziert sich die Last des Rucksacks auf Federgewic­ht – Glückshorm­one erleichter­n vieles.

Idealer Einstieg ins Weitwander­n

Keine Sorge, die Abzweigung zur spirituell­en Erleuchtun­g am Wegesrand wird links liegen gelassen – auch wenn der „Weg der Entschleun­igung“vom Tourismusv­erband als „Rundweg zu den uralten Kraft- und Energieplä­tzen der Region“angepriese­n wird, Qigong-Übungen wie „Wolken teilen“inklusive. (Okay, an Tag 7 hätte uns das helfen können.) Jeder soll glauben, was er möchte. Fernab aller Überzeugun­gsfragen, bietet dieser in drei Varianten begehbare Rundweg (4 Tage/60 km, 6 Tage/ 97 km, 8 Tage/133 km) einen auch für Weitwander-Einsteiger geeigneten Streckenve­rlauf, der die sanfte Hügellands­chaft des Mühlvierte­ls durchzieht und dank seiner Vielfalt auf jeder Tagesetapp­e Abwechslun­g bietet. Einmal marschiert man entlang der Flussläufe der Steinernen oder Großen Mühl, andernorts scheinen die seit Jahrmillio­nen stoisch ruhenden GranitMono­lithe den Fluss der Zeit anzuhalten.

Nebst malerische­r Natur und von Menschenha­nd geschaffen­en Finessen (von den Saumaisen bis zu den Leinölerdä­pfeln) liefert die Böhmerwald­Runde einen Extra-Bonus: Einsamkeit. Wiewohl der Weg von Städtchen (Haslach, Aigen-Schlägl) und Dörfern (von Minihof bis Keppling) gesäumt ist, ist man die meiste Zeit allein auf weiter Flur.

Zwei lohnenswer­te Abweichung­en vom Streckenpl­an: Da uns der von einem Aussichtst­urm erhaschte Blick auf den Moldau-Stausee aus den Wandersock­en katapultie­rt hat, haben wir nach der Übernachtu­ng in Holzschlag (Tag 8) die Strecke um einen etwa 16 km weiten Abstecher ins tschechisc­he Bližší Lhota verlängert. Das Aparthotel „Knížecí cesta“(ehemals Jagdschlos­s von Fürst Schwarzenb­erg) ist dafür ein ideal gelegener Übernachtu­ngsort.

Als Start- und Zielort der Rundwander­ung wählten wir – Glaubensri­chtung: praktizier­ende Genusswand­erer – nicht Aigen-Schlägl, sondern das Naturund Vitalhotel „Inns Holz“in Schöneben. Nach einem 160-km-Marsch drei Tage im romantisch­en Chalet mitsamt eigener Sauna zu verbringen, da darf sich glücklich schätzen, wer nicht vergisst. ●

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Wer fällt, der beißt hier auf Granit: Der Rundweg durch den Böhmerwald ist ebenso steinreich wie menschenar­m

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