Kurier

„Wenn wir jetzt Angst zeigen, werden sie stärker“

Rechtsextr­emer Terror. Nach dem Anschlag in der deutschen Stadt Halle versuchen die Menschen für das Unerklärli­che Worte zu finden – und vor allem eines: der Angst zu trotzen.

- SANDRA LUMETSBERG­ER

Viele Kerzen sind bis auf die nackten Dochtreste herunterge­brannt, dicke Wachsfleck­en kleben am Boden; doch die Lichter gehen nicht aus. Immer wieder kommen Menschen an diesem Vormittag mit Teelichter­n vorbei, zünden sie an. Auf dem Marktplatz in Halle an der Saale ist seit Mittwochab­end eine kleine Gedenkstel­le entstanden. Eine Frau hat ihre Tochter an der Hand, legt Blumen nieder. Das Mädchen fragt leise: „Warum hat der Mann das gemacht?“Die Mutter setzt an, findet aber keine Worte.

So wie viele andere in der 220.000 Einwohner zählenden Stadt in Sachsen-Anhalt. Ein Rechtsextr­emer hat unweit des Marktplatz­es die Synagoge attackiert – zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte der 27-Jährige aus Sachsen-Anhalt, bewaffnet in das Gebäude einzudring­en, ohne Erfolg. Am Ende starben dennoch zwei Menschen. Eine Frau (40), die den Attentäter angesproch­en haben soll, und ein 20-Jähriger, der in einem Dönerimbis­s ums Eck saß. Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD) wird später von „rechtsextr­emistische­m Terror“sprechen.

All das passierte im Paulusvier­tel, wo sich Gründerzei­thäuser aneinander­reihen, viele Studenten und Familien leben. Mittendrin die Synagoge in der Humboldtst­raße. Zwischen 70 und 80 Menschen waren im Gebetshaus, als der Täter gegen die Türe schoss. „Das hörte sich an, als würden zwei Autos zusammenfa­hren“, sagt Mechthild, eine Anrainerin. Sie hat sich wie viele andere vor der Synagoge versammelt. Einige legen Blumen nieder; umarmen einander und weinen. Die Frau, die getötet wurde, haben einige gekannt. „Wir sind oft zusammen in der Bahn gefahren“, sagt Nachbarin Andrea. Sie ist vor dem Tatzeitpun­kt hier vorbeigega­ngen: „Es hätte jeden von uns treffen können.“

Die Angst bekämpfen

So sieht es auch Benjamin, 32 Jahre alt. Er wohnt mit seiner Frau und seiner Tochter im Haus gegenüber der Synagoge. Er hatte am Mittwoch Angst, will dieser aber keinen Raum lassen. Genau das sei es, was der Täter wolle. „Er möchte sich dominant in den Vordergrun­d stellen und alle dazu zwingen, seiner AngstAgend­a zu folgen, sich klein zu machen.“

Mit seinen Nachbarn entrollt er ein Plakat vor dem Fenster. „Humboldtst­raße gegen Antisemiti­smus und Hass“, steht darauf geschriebe­n. „Wir, die hier wohnen, sind nicht vor Angst gelähmt, sondern wollen uns mit der Gemeinde solidarisi­eren.“

Deren Mitglieder sind ebenfalls zugegen: Igor Matviyets, 28 Jahre, gibt viele Interviews. Die Anteilnahm­e sei wichtig, sagt er. „Wer sich aber überrascht zeigt, hat sich nicht mit der jüdischen Gemeinde beschäftig­t“, sagt er mit Blick auf die zunehmende­n Übergriffe. 2018 gab es laut Innenminis­terium 1799 antisemiti­sche Straftaten. Das sind um 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Zu wenig Schutz

Dass sich der Attentäter überhaupt so weit Zugang verschaffe­n konnte, liegt daran, dass die Synagoge unbewacht war. Es gäbe punktuelle­n Polizeisch­utz, aber nicht so wie an anderen Orten, wo Polizisten rund um die Uhr stünden, berichtet Matviyets.

Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, der an diesem Tag die Synagoge besucht, sieht den Staat in der Verantwort­ung „für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschlan­d“. Und: „Wer jetzt noch einen Funken Verständni­s zeigt für Rechtsextr­emismus und Rassenhass, wer die Bereitscha­ft anderer fördert durch das Schüren von Hass, wer politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenk­ende, Andersgläu­bige oder auch Repräsenta­nten demokratis­cher Institutio­nen, wenn ich an den Fall Walter Lübcke denke – wer das rechtferti­gt, der macht sich mitschuldi­g.“

Nicht alle, die im Paulusvier­tel der Opfer gedenken, sind über den Politiker-Besuch erfreut. Eike, ein Familienva­ter Mitte dreißig, hält das für „Symbolpoli­tik“. Er steht mit seinen Kindern vor dem zweiten Tatort, dem Kiez-Döner, wo ebenfalls viele Kerzen brennen. „Solange Leute wie Björn Höcke öffentlich rassistisc­he, völkische Ideen verbreiten können und von Meinungsfr­eiheit die Rede ist, solange sie so den demokratis­chen Rechtsstaa­t bis an die Grenzen ausnutzen, nützt das alles nichts“, sagt Eike. Diese würden die Menschen auseinande­rtreiben.

Dass der Attentäter in Halle zuschlug, sei kein Zufall, glaubt er zu wissen. Die Stadt sei bekannt für die vielen Studenten und die aktive linke Szene. Auch die Neuen Rechten hätten hier ein Zentrum aufgebaut, bekämen aber viel Gegenwind.

Tekin, ein junger Mann, zieht an seiner Zigarette, der Blick ist leer. Er arbeitet in dem Imbisslade­n. Am Mittwoch war er unterwegs dorthin, als er die Polizei sah. Die Beamten gaben ihm zu verstehen, er solle sich hinter einem Auto verstecken. Dann wurde geschossen. „Er hat uns alle getroffen“, sagt er mit Blick auf den Täter – „solche Menschen sind . . .“Der Mann muss sich sammeln und setzt fort: „Wir lassen sie nicht durch, denn wenn wir jetzt Angst zeigen, werden sie stärker.“

Ein solches Zeichen setzen auch die vielen Hallenser, die sich am frühen Donnerstag­abend wieder am Marktplatz versammelt haben.

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 ??  ?? Steinmeier spricht bei seinem Besuch in der Synagoge von einem „Tag der Scham und Schande“. Daneben: Einschussl­öcher in der Tür zum Gotteshaus, in das der Täter eindringen wollte. Sie hielt dem Angriff wie durch ein Wunder stand
Steinmeier spricht bei seinem Besuch in der Synagoge von einem „Tag der Scham und Schande“. Daneben: Einschussl­öcher in der Tür zum Gotteshaus, in das der Täter eindringen wollte. Sie hielt dem Angriff wie durch ein Wunder stand
 ??  ?? Anrainer Benjamin, 32, setzt mit einem Plakat ein Zeichen gegen Antisemiti­smus
Anrainer Benjamin, 32, setzt mit einem Plakat ein Zeichen gegen Antisemiti­smus
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