Kommentar
Deutschland. Die meisten sind nicht organisiert Radikale Sprache macht radikale Gewalt
Es sei skandalös, dass zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, die Synagoge von Halle von der Polizei nicht geschützt worden war. „Es macht sich Sorge breit“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er beobachte eine politische Entwicklung, die Rechtsextremismus fördere.
Einen solch feigen Anschlag zu verurteilen, reiche nicht, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Die Geschichte mahnt uns, die Gegenwart fordert uns.“
Doch wie Polizei und Geheimdienste schwer bewaffnete Rechtsextreme, die sich heutzutage vor dem Computerschirm radikalisieren, in den Griff bekommen können, wird wieder heftig diskutiert.
Seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, der am 2. Juni 2019 in seinem Haus bei Kassel von einem Rechtsextremen erschossen wurde, ist klar, dass Worte töten können. Lübcke war für die Unterbringung von Flüchtlingen als Regierungspräsident von Kassel zuständig. Er musste Anfeindungen über sich ergehen lassen und wurde bereits von der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund auf einer „Feindesliste“mit rund 10.000 Namen geführt. Sein Auftreten bei einer Bürgerversammlung wurde im Netz geteilt: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Lübckes Mörder war polizeibekannt, wurde aber vom Verfassungsschutz aus den Augen verloren.
24.000 Rechtsextreme
24.000 Rechtsextremisten seien derzeit in Deutschland aktiv, davon 12.700 gewaltbereit, heißt es in einem im Juni vorgestellten Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz. Rechtsextreme Straftaten mit antisemitischem Motiv seien sprunghaft angestiegen. Der Antisemitismus sei in der rechten Szene ein verbindendes Merkmal. Wie der Hass auf Menschen muslimischen Glaubens. Über 13.000 Rechtsextremisten seien nicht organisiert, gehörten also keiner identitären Bewegung an. Er wollte eine Synagoge stürmen und dort ein Massaker anrichten. Weil Bewaffnung (und Intelligenz) des Stiefelträgers gottlob nicht reichten, um die Tür zu überwinden, erschoss er zwei Unbeteiligte außerhalb – und filmte seine Tat mit Helmkamera. Im Internet tauchte ein Manifest mit dem Anschlagplan und der Glorifizierung des Ziels auf, vorzugsweise Juden, aber auch Muslime und Linke zu töten.
Was in Halle passiert ist, erinnert in vielen Details an das Christchurch-Massaker (März, 51 Tote). Die Betroffenheit der Politik mitsamt erklärter Solidarität für die jüdischen Mitbürger auch. Und wieder stellen sich dieselben Fragen wie jedes Mal: War so eine Tat nicht vorhersehbar, wo Extremismusberichte zunehmende rechtsradikale Gewalt an die Wand malen? Woher kommt diese Radikalisierung, die sich wohl nicht nur mit Zuwanderung und Verlust-/Existenzangst erklären lässt, wenn sie sich an jüdischen Betenden entlädt? Wie gehen die Medien damit um?
Zurückhaltung der Medien?
Letztere Frage ist so einfach wie schwierig zu beantworten. Typen wie der Mörder von Halle haben, so wie islamistische Attentäter der vergangenen Jahre, neben dem Tod vieler vor allem ein Ziel: Dass ihre Tat und ihre Personalie in allen Details verbreitet werden (IS-Attentäter trugen immer einen Ausweis mit sich). Die Taten medial totschweigen geht nicht, erst recht nicht in Zeiten sozialer und schnappatmender Online-Medien. Aber demonstrative Sachlichkeit in der Berichterstattung, ohne die Gefahren kleinzureden, und Zurückhaltung täten Not – um sich nicht zum Erfüllungsgehilfen der mörderischen Idioten zu machen.
Mit dem Stichwort Idiot ist man schon bei der Beantwortung der Fragen eins und zwei. Die Tat war aufgrund des vorhandenen rechtsextremen Milieus vorhersehbar, ja. Das Milieu hat viel mit der Benachteiligung des ehemaligen deutschen Ostens zu tun, auch ja. Aber Christchurch liegt nicht im Osten. Und bei einer Vielzahl der Attentäter wiederholt sich das Muster des minderbemittelten, manchmal psychisch beeinträchtigten, meist besonders schlicht gestrickten Täters. Der sich durch die Verrohung der Sprache in der Politik bestätigt sieht. Wenn AfDPolitiker Verständnis äußern, dass Deutsche keine Nachbarn anderer Hautfarbe wollen, und Ausländer als „Gesinde“bezeichnen, wenn FPÖ-Scharfmacher „Es wird keine Extrawürste für Afghanen geben, da halten wir uns an die Speisevorschriften“poltern – dann bedient das nicht nur die Schenkelklopfer am rechten Rand, sondern auch die, die die Hand zum Schenkelklopfen nicht frei haben, weil sie Waffen halten. Und denen es egal ist, ob sie Muslime oder Juden töten, Hauptsache dass.
Sage niemand, so dürfe man das alles nicht in einen Topf werfen – es ist der braune Topf, aus dem sich Typen wie jener in Halle nähren. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, hat nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale die Gesellschaft zu einem dauerhaften Zeichen der Solidarität mit jüdischen Mitbürgern aufgefordert. „Deutschland trägt Davidstern“– eine solche Aktion, bei der möglichst viele Bürger das Symbol des Judentums tagtäglich offen an einer Kette tragen, wäre ein deutliches Signal gegen den Antisemitismus, sagte Joffe.
Im Auto des mutmaßlichen Täters von Halle sind nach Angaben von Generalbundesanwalt Peter Frank insgesamt vier Kilo Sprengstoff in zahlreichen Sprengvorrichtungen sichergestellt worden. Dem mutmaßlichen Täter Stephan B. werde zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfen, sagte Frank.
Der israelische Nazi-Jäger Efraim Zuroff fordert eine umfassendere Bildung zu Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. „Es gibt die Bildung, aber nicht überall in gleichem Maße und tief genug, so wie es sein müsste“, sagte Zuroff am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Tel Aviv. „Es gibt Unterschiede zwischen Ost und West, und es hängt von jedem einzelnen Lehrer und Schulleiter ab.“Bildung sei die langfristige Lösung im Kampf gegen Antisemitismus. „Die kurzfristigen Lösungen sind Sicherheit und soziale Netzwerke.“Weltweit würden Plattformen Posts nicht genug kontrollieren.