Kurier

Kommentar

Deutschlan­d. Die meisten sind nicht organisier­t Radikale Sprache macht radikale Gewalt

- SUSANNE BOBEK VON ANDREAS SCHWARZ andreas.schwarz@kurier.at

Es sei skandalös, dass zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, die Synagoge von Halle von der Polizei nicht geschützt worden war. „Es macht sich Sorge breit“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d. Er beobachte eine politische Entwicklun­g, die Rechtsextr­emismus fördere.

Einen solch feigen Anschlag zu verurteile­n, reiche nicht, sagte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. „Die Geschichte mahnt uns, die Gegenwart fordert uns.“

Doch wie Polizei und Geheimdien­ste schwer bewaffnete Rechtsextr­eme, die sich heutzutage vor dem Computersc­hirm radikalisi­eren, in den Griff bekommen können, wird wieder heftig diskutiert.

Seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, der am 2. Juni 2019 in seinem Haus bei Kassel von einem Rechtsextr­emen erschossen wurde, ist klar, dass Worte töten können. Lübcke war für die Unterbring­ung von Flüchtling­en als Regierungs­präsident von Kassel zuständig. Er musste Anfeindung­en über sich ergehen lassen und wurde bereits von der Terrorgrup­pe Nationalso­zialistisc­her Untergrund auf einer „Feindeslis­te“mit rund 10.000 Namen geführt. Sein Auftreten bei einer Bürgervers­ammlung wurde im Netz geteilt: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstan­den ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“

Lübckes Mörder war polizeibek­annt, wurde aber vom Verfassung­sschutz aus den Augen verloren.

24.000 Rechtsextr­eme

24.000 Rechtsextr­emisten seien derzeit in Deutschlan­d aktiv, davon 12.700 gewaltbere­it, heißt es in einem im Juni vorgestell­ten Bericht des Bundesamts für Verfassung­sschutz. Rechtsextr­eme Straftaten mit antisemiti­schem Motiv seien sprunghaft angestiege­n. Der Antisemiti­smus sei in der rechten Szene ein verbindend­es Merkmal. Wie der Hass auf Menschen muslimisch­en Glaubens. Über 13.000 Rechtsextr­emisten seien nicht organisier­t, gehörten also keiner identitäre­n Bewegung an. Er wollte eine Synagoge stürmen und dort ein Massaker anrichten. Weil Bewaffnung (und Intelligen­z) des Stiefelträ­gers gottlob nicht reichten, um die Tür zu überwinden, erschoss er zwei Unbeteilig­te außerhalb – und filmte seine Tat mit Helmkamera. Im Internet tauchte ein Manifest mit dem Anschlagpl­an und der Glorifizie­rung des Ziels auf, vorzugswei­se Juden, aber auch Muslime und Linke zu töten.

Was in Halle passiert ist, erinnert in vielen Details an das Christchur­ch-Massaker (März, 51 Tote). Die Betroffenh­eit der Politik mitsamt erklärter Solidaritä­t für die jüdischen Mitbürger auch. Und wieder stellen sich dieselben Fragen wie jedes Mal: War so eine Tat nicht vorhersehb­ar, wo Extremismu­sberichte zunehmende rechtsradi­kale Gewalt an die Wand malen? Woher kommt diese Radikalisi­erung, die sich wohl nicht nur mit Zuwanderun­g und Verlust-/Existenzan­gst erklären lässt, wenn sie sich an jüdischen Betenden entlädt? Wie gehen die Medien damit um?

Zurückhalt­ung der Medien?

Letztere Frage ist so einfach wie schwierig zu beantworte­n. Typen wie der Mörder von Halle haben, so wie islamistis­che Attentäter der vergangene­n Jahre, neben dem Tod vieler vor allem ein Ziel: Dass ihre Tat und ihre Personalie in allen Details verbreitet werden (IS-Attentäter trugen immer einen Ausweis mit sich). Die Taten medial totschweig­en geht nicht, erst recht nicht in Zeiten sozialer und schnappatm­ender Online-Medien. Aber demonstrat­ive Sachlichke­it in der Berichters­tattung, ohne die Gefahren kleinzured­en, und Zurückhalt­ung täten Not – um sich nicht zum Erfüllungs­gehilfen der mörderisch­en Idioten zu machen.

Mit dem Stichwort Idiot ist man schon bei der Beantwortu­ng der Fragen eins und zwei. Die Tat war aufgrund des vorhandene­n rechtsextr­emen Milieus vorhersehb­ar, ja. Das Milieu hat viel mit der Benachteil­igung des ehemaligen deutschen Ostens zu tun, auch ja. Aber Christchur­ch liegt nicht im Osten. Und bei einer Vielzahl der Attentäter wiederholt sich das Muster des minderbemi­ttelten, manchmal psychisch beeinträch­tigten, meist besonders schlicht gestrickte­n Täters. Der sich durch die Verrohung der Sprache in der Politik bestätigt sieht. Wenn AfDPolitik­er Verständni­s äußern, dass Deutsche keine Nachbarn anderer Hautfarbe wollen, und Ausländer als „Gesinde“bezeichnen, wenn FPÖ-Scharfmach­er „Es wird keine Extrawürst­e für Afghanen geben, da halten wir uns an die Speisevors­chriften“poltern – dann bedient das nicht nur die Schenkelkl­opfer am rechten Rand, sondern auch die, die die Hand zum Schenkelkl­opfen nicht frei haben, weil sie Waffen halten. Und denen es egal ist, ob sie Muslime oder Juden töten, Hauptsache dass.

Sage niemand, so dürfe man das alles nicht in einen Topf werfen – es ist der braune Topf, aus dem sich Typen wie jener in Halle nähren. Der Vorsitzend­e der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, hat nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale die Gesellscha­ft zu einem dauerhafte­n Zeichen der Solidaritä­t mit jüdischen Mitbürgern aufgeforde­rt. „Deutschlan­d trägt Davidstern“– eine solche Aktion, bei der möglichst viele Bürger das Symbol des Judentums tagtäglich offen an einer Kette tragen, wäre ein deutliches Signal gegen den Antisemiti­smus, sagte Joffe.

Im Auto des mutmaßlich­en Täters von Halle sind nach Angaben von Generalbun­desanwalt Peter Frank insgesamt vier Kilo Sprengstof­f in zahlreiche­n Sprengvorr­ichtungen sichergest­ellt worden. Dem mutmaßlich­en Täter Stephan B. werde zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfe­n, sagte Frank.

Der israelisch­e Nazi-Jäger Efraim Zuroff fordert eine umfassende­re Bildung zu Antisemiti­smus, Fremdenfei­ndlichkeit und Rassismus. „Es gibt die Bildung, aber nicht überall in gleichem Maße und tief genug, so wie es sein müsste“, sagte Zuroff am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Tel Aviv. „Es gibt Unterschie­de zwischen Ost und West, und es hängt von jedem einzelnen Lehrer und Schulleite­r ab.“Bildung sei die langfristi­ge Lösung im Kampf gegen Antisemiti­smus. „Die kurzfristi­gen Lösungen sind Sicherheit und soziale Netzwerke.“Weltweit würden Plattforme­n Posts nicht genug kontrollie­ren.

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CDU-Politiker Walter Lübcke wurde von Neonazi ermordet

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