„Der Wunsch, Macht auszuüben“ 12.700 Neonazis sind gewaltbereit
Analyse. Das Video aus Psychologensicht
Cornel Binder-Krieglstein ist klinischer- und Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut. Besondere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Krisenintervention und die Notfallpsychologie. Für den KURIER hat er sich das Video angesehen, das der Attentäter von Halle live gestreamt hat.
Für ihn scheint klar: „Dieser Mann hat das Gefühl, das Richtige zu tun. Er handelt aus dem Gefühl heraus, dafür Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen.“Die Live-Übertragung im Internet spiele eine wichtige Rolle. „Er will damit seine ,Herrlichkeit‘ publizieren.“
Im Alltag ganz klein
Doch im Alltag, so meint Binder-Krieglstein, fühlen sich solche Menschen oft „ganz klein“. „Er selbst bezeichnet sich in dem Video ja als Loser.“Das breche auch durch, als der Mann im Auto sitzt und sein Versagen erkenne.
„Bei einer solchen Tat gibt es mehrere Phasen, die ein Täter durchläuft“, sagt Binder-Krieglstein. Phase eins: Die eigenen Verletzungen. „Kränkungen im Vorfeld oder Zurücksetzungen und Beleidigungen. Kleine Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen“, beschreibt es der Psychologe. Ein Jobverlust oder ein Beziehungsende könnten derartige Auslöser sein. Schließlich Phase zwei: Der psychosoziale Rückzug. „Da wird von Szenarien fantasiert, gegrübelt und geplant. Da herrscht der Wunsch, selbst Macht ausüben zu wollen.“Und wesentlich: Die Suche nach einer Menschengruppe, die in seinen Augen schwach ist.
Phase drei: Die Durchführung. „In den Augen des Täters wird so die Gerechtigkeit wieder hergestellt.“Und dabei habe er bestimmte Personengruppen im Auge. „An der alten Dame vor dem Döner-Laden geht er einfach vorbei. Auch die Autofahrer ignoriert er völlig. Diese Personen passen ihm bei seiner Fantasie von der Herstellung von Gerechtigkeit nicht hinein.“
Binder-Krieglstein erkennt starke Parallelen zum Neuseeland-Attentäter, aber auch zum norwegischen Massenmörder Anders Breivik. „Aber auch bei uns gibt es solche Fälle. Etwa der versuchte Amoklauf bei einer Schule in Mistelbach.“