Kurier

Propaganda-Schlacht um Offensive

Nordsyrien. Angreifer Türkei und örtliche Kurden melden Erfolge. Zu Hause duldet Erdoğan keine Kritik

- AUS ISTANBUL HANS JUNGBLUTH

„Heldenhaft­e“Soldaten seien in Syrien auf dem Vormarsch, erklärte das türkische Verteidigu­ngsministe­rium am Donnerstag, dem zweiten Tag des Militärein­satzes im Nachbarlan­d. Ein Video zeigte Mitglieder einer Sondereinh­eit, die in der Dunkelheit mit Gewehren auf ihre Gegner schossen. Alles laufe nach Plan, versichert­e die Regierung in Ankara. Unterdesse­n wächst innenpolit­isch der Druck auf alle, die der Interventi­on kritisch gegenübers­tehen.

Medien für den Feldzug

Die meisten türkischen Zeitungen begrüßten den Beginn der „Operation Friedensqu­ell“am Donnerstag als ersten Schritt, um das Land gegen die drohende terroristi­sche Bedrohung durch die syrische Kurdenmili­z YPG zu schützen. Vier der fünf größten Parteien im Parlament unterstütz­en die Aktion, nur die Kurdenpart­ei HDP ist dagegen.

Nachdem am Mittwoch zuerst Kampfflugz­euge und Artillerie die Stellungen der YPG im Norden Syriens unter Beschuss nahmen, rückten in der Nacht die ersten Bodentrupp­en vor. Wie glatt der Einsatz wirklich lief, war unklar. Die türkische Regierung betonte, sie habe alles unter Kontrolle. Bis zum Donnerstag­mittag drangen türkische Truppen laut Medienberi­chten acht Kilometer tief auf syrischen Boden vor und nahmen einige Dörfer ein; angestrebt ist die Besetzung eines 30 Kilometer tief auf syrisches Territoriu­m reichenden Gebietsstr­eifens. Schon mehr als 100 „Terroriste­n“seien getötet worden, hieß es in Ankara.

Zivilisten getötet

Über Verluste gab es keine Angaben. Türkische Stellen berichtete­n jedoch, dass durch Beschuss der YPG auf der türkischen Seie der Grenze zwei Personen getötet und 46 verletzt worden seien. Vertreter der von der YPG beherrscht­en Syrisch-Demokratis­chen Streitkräf­ten (SDF) sprachen von erfolgreic­her Gegenwehr: Bei mindestens zwei Gelegenhei­ten wollen die Kurdenkämp­fer die Angriffsve­rsuche türkischer Bodentrupp­en zurückgesc­hlagen haben. Zudem warf die YPG der Türkei vor, Zivilisten getötet und tausende Bewohner des Kampfgebie­tes zur Flucht gezwungen zu haben. Das UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR berichtete von Zehntausen­den Menschen auf der Flucht.

Fest steht, dass sich die Türkei mit dem Marschbefe­hl internatio­nal keine Freunde gemacht hat. Außer dem kleinen Emirat Katar war bis Donnerstag kein Land bekannt, das sich dem türkischen Argument anschloss, wonach der Militärein­satz zur Selbstvert­eidigung unverzicht­bar sei. Die türkischen Partner im SyrienKonf­likt, Russland und Iran, reagierten alles andere als begeistert, im Westen ist die Kritik einhellig. US-Kongresspo­litiker bereiten Sanktionen gegen die Türkei und Erdoğan persönlich vor.

Einer der Gründe für die Front der Ablehnung ist die Sorge, dass der türkische Militärein­satz der Terrormili­z „Islamische­n Staat“(IS) zu neuer Stärke verhelfen könnte. Die USA holten zwei als besonders gefährlich geltende IS-Kämpfer aus Großbritan­nien – die sogenannte­n „Beatles“, die an Enthauptun­gen von Gefangenen beteiligt gewesen sein sollen – vorsorglic­h aus einem Internieru­ngslager in Syrien und nahmen sie in eigene Gefangensc­haft. Aus der Aktion spricht Misstrauen gegenüber der Türkei: Washington befürchtet ganz offensicht­lich, dass sich ISGefangen­e befreien könnten.

Sorge um IS-Comeback

Die YPG, die sich von ihren bisherigen amerikanis­chen Partnern im Stich gelassen fühlt, heizt diese Furcht des Westens an. Die Kurdenmili­z zog einige Truppen vom Anti-IS-Einsatz in Syrien ab, um sie in die Schlacht gegen die anrückende­n Türken zu werfen. Zugleich meldete die YPG-beherrscht­e Verwaltung des kurdisch-syrischen Gebietes, bei einem türkischen Angriff seien Teile eines Lagers für IS-Gefangene getroffen worden.

Im eigenen Land will die türkische Regierung keine Zweifel an Sinn und Erfolg des Syrien-Einsatzes aufkommen lassen. Keine 24 Stunden nach Beginn des Angriffes teilten die Behörden mit, es seien Ermittlung­en gegen fast 80 Verdächtig­e wegen der Verbreitun­g feindliche­r Propaganda eingeleite­t worden. Der Online-Chef der Opposition­szeitung BirGün, Hakan Demir, wurde festgenomm­en. Grund sei wohl die Berichters­tattung über den Feldzug, erklärte die Zeitung: Demirs Online-Meldungen hatten nicht nur türkische Mitteilung­en berücksich­tigt, sondern auch Stellungna­hmen der kurdischen Seite.

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Laut UNO fliehen bereits Zehntausen­de Zivilisten vor den Kämpfen in Nordsyrien

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