Kommentar
Warum die EU die Türkei nur so kleinlaut kritisiert Erdoğan droht EU mit Öffnen der Grenzen für Flüchtlinge
Die auf ihre Vertragstreue pochende und die Menschenrechte beschwörende Europäische Union – wenn es ganz ernst wird, sollte man sich nicht auf sie verlassen. Das ist leider das beschämende Bild, das Europa abgibt, während die Türkei ihre Truppen in Syrien einmarschieren lässt. Nein, die kurdischen Milizen im Norden Syriens, die Ankara als „Terroristen“ansieht, waren nie Verbündete der EU. Aber dankbar waren wir doch – dass sie und nicht europäische Soldaten gegen die Fanatiker des „Islamischen Staates“gekämpft haben. Aber noch viel dankbarer, so scheint es, ist man in Europa der türkischen Führung, dass Staatschef Erdoğan den EU-Flüchtlingsdeal nicht kündigt.
Die Angst, Erdoğan könnte wie oft angedroht Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken, lähmt die EU. Dass er damit die EU in der Hand hat, daran ist Europa selbst schuld. Der Flüchtlingsdeal, aus der Not geboren, war als Provisorium gedacht. Bis heute konnten sich die EU-Staaten auf keinen Migrationskurs einigen: Also bleibt der Deal mit Erdoğan eine der Säulen der EU-Flüchtlingspolitik – und die EU erpressbar. Militärisches Eingreifen Europas in Syrien stand nie zur Frage. Aber zumindest ihre wirtschaftliche Macht könnte die EU nutzen, um Erdoğan zu bremsen. Und um dann laut und unmissverständlich zu sagen, dass das Vorgehen der Türkei nichts anders ist als Völkerrechtsbruch, Invasion, Krieg, Zerstörung und völlig inakzeptabel.
Kritik am Einmarsch der türkischen Truppen in Syrien verbittet sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Dabei war der Protest der EUAußenbeauftragten Federica Mogherini mehr als zahm ausgefallen: „Wir rufen die Türkei auf, sofort ihre einseitige militärische Aktion zu stoppen“, verlangte sie. Die Kritik von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fiel ähnlich vage aus.
Die Antwort aus Ankara kam dennoch postwendend als Drohung: „Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn Ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte Erdoğan.
Drohungen des türkischen Staatschefs, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen, sind nicht neu. In Brüssel pflegt man darauf nicht offiziell zu reagieren, sondern verweist stets darauf, dass der Pakt hält. Meist wurde dies so verstanden, dass die Türkei auf mehr finanzielle Unterstützung für die syrischen Flüchtlinge im Land pocht. Sechs Milliarden Euro hat Ankara dafür erhalten, die EU-Hilfe läuft mit Jahresende aus. Die EU bereitet aber derzeit die Überweisung einer weiteren Milliarde Euro an die Türkei vor.