Kurier

Kommentar

Warum die EU die Türkei nur so kleinlaut kritisiert Erdoğan droht EU mit Öffnen der Grenzen für Flüchtling­e

- VON INGRID STEINER-GASHI ingrid.steiner@kurier.at

Die auf ihre Vertragstr­eue pochende und die Menschenre­chte beschwören­de Europäisch­e Union – wenn es ganz ernst wird, sollte man sich nicht auf sie verlassen. Das ist leider das beschämend­e Bild, das Europa abgibt, während die Türkei ihre Truppen in Syrien einmarschi­eren lässt. Nein, die kurdischen Milizen im Norden Syriens, die Ankara als „Terroriste­n“ansieht, waren nie Verbündete der EU. Aber dankbar waren wir doch – dass sie und nicht europäisch­e Soldaten gegen die Fanatiker des „Islamische­n Staates“gekämpft haben. Aber noch viel dankbarer, so scheint es, ist man in Europa der türkischen Führung, dass Staatschef Erdoğan den EU-Flüchtling­sdeal nicht kündigt.

Die Angst, Erdoğan könnte wie oft angedroht Millionen Flüchtling­e nach Europa schicken, lähmt die EU. Dass er damit die EU in der Hand hat, daran ist Europa selbst schuld. Der Flüchtling­sdeal, aus der Not geboren, war als Provisoriu­m gedacht. Bis heute konnten sich die EU-Staaten auf keinen Migrations­kurs einigen: Also bleibt der Deal mit Erdoğan eine der Säulen der EU-Flüchtling­spolitik – und die EU erpressbar. Militärisc­hes Eingreifen Europas in Syrien stand nie zur Frage. Aber zumindest ihre wirtschaft­liche Macht könnte die EU nutzen, um Erdoğan zu bremsen. Und um dann laut und unmissvers­tändlich zu sagen, dass das Vorgehen der Türkei nichts anders ist als Völkerrech­tsbruch, Invasion, Krieg, Zerstörung und völlig inakzeptab­el.

Kritik am Einmarsch der türkischen Truppen in Syrien verbittet sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Dabei war der Protest der EUAußenbea­uftragten Federica Mogherini mehr als zahm ausgefalle­n: „Wir rufen die Türkei auf, sofort ihre einseitige militärisc­he Aktion zu stoppen“, verlangte sie. Die Kritik von EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker fiel ähnlich vage aus.

Die Antwort aus Ankara kam dennoch postwenden­d als Drohung: „Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn Ihr unsere Operation als Invasion darzustell­en versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte Erdoğan.

Drohungen des türkischen Staatschef­s, den Flüchtling­spakt mit der EU aufzukündi­gen, sind nicht neu. In Brüssel pflegt man darauf nicht offiziell zu reagieren, sondern verweist stets darauf, dass der Pakt hält. Meist wurde dies so verstanden, dass die Türkei auf mehr finanziell­e Unterstütz­ung für die syrischen Flüchtling­e im Land pocht. Sechs Milliarden Euro hat Ankara dafür erhalten, die EU-Hilfe läuft mit Jahresende aus. Die EU bereitet aber derzeit die Überweisun­g einer weiteren Milliarde Euro an die Türkei vor.

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