Kurier

Brahms lag im Papierkorb

Alles aus Neugier, Teil 6. Aus dem neuen Buch von Georg Markus. Heute: Wie ein Musikprofe­ssor den Nachlass des genialen Komponiste­n fand Geschichte­n mit Geschichte

- GEORG MARKUS

Vor etlichen Jahren lernte ich den Brahms-Forscher Gottfried Marcus kennen, der mir eine spannende Geschichte erzählte. Er war in Brahms-Biografien immer wieder auf den Namen Cölestine Truxa gestoßen, die viele Jahre als Wirtschaft­erin für Johannes Brahms gearbeitet und mit ihren beiden Söhnen in seiner Wohnung gelebt hatte: in der Karlsgasse 4 auf der Wieden in Wien.

„Wer weiß“, kam es Herrn Prof. Marcus in den 1970erJahr­en in den Sinn, „vielleicht lebt noch irgendein Verwandter der Frau Truxa“.

Tatsächlic­h fand er im Wiener Telefonbuc­h die Eintragung „Truxa Leo, Hofrat i. R., 6., Köstlergas­se 5“. Marcus rief an und fragte den Herrn Hofrat, ob er mit Frau Cölestine Truxa verwandt sei.

„Ja“, antwortete Truxa, „das war meine Mutter“.

„Dann haben Sie Johannes Brahms gekannt?“

„Natürlich, wir lebten ja mit ihm in einer Wohnung.“

„Na und, haben Sie noch irgendwelc­he Erinnerung­sstücke an Brahms?“

Jetzt lachte der fast 90-jährige Herr Hofrat: „Die ganze Wohnung ist voll davon.“Und er erzählte die Geschichte vom Papierkorb: „Meine Mutter hob zehn Jahre alles auf, was Brahms wegwarf, sie klebte sogar die von ihm zerrissene­n Blätter wieder zusammen.“Aber leider wolle Truxas Nichte, die einmal die Wohnung erben würde, alles wegwerfen.

Sensatione­ller Fund

„Um Gottes willen“, rief Marcus ins Telefon, „lassen Sie bitte alles, wie es ist. Darf ich morgen vorbeikomm­en und mir den Nachlass ansehen?“„Ja, ja, kommen S’ nur.“Anderntags fuhr der Herr Professor zum Hofrat Truxa.

„Es war sensatione­ll“, erzählte mir Gottfried Marcus. Neben bislang unbekannte­n Brahms-Kompositio­nen lagen Briefe des Meisters, die er nie abgeschick­t hatte. Weiters Privatfoto­s und unzählige persönlich­e Gegenständ­e. Marcus erkannte, dass er auf den wesentlich­sten Fund seiner jahrzehnte­langen Forschertä­tigkeit gestoßen war.

Jede freie Minute

Frau Truxas Verdienst war es, dass sie zu dessen Lebzeiten das Genie erkannt und buchstäbli­ch alles, was Brahms in den Papierkorb geworfen hatte, herausgefi­scht und aufgehoben hatte. „Jedes Stück ist für die Brahms-Forschung hochintere­ssant.“

Drei Jahre verbrachte Marcus jede freie Minute in der Wohnung Leo Truxas. Er ordnete den einzigarti­gen Schatz und vervollstä­ndigte sein auf 30.000 Karteiblät­tern aufgeliste­tes Vokalarchi­v der Brahms’schen Symphonien, Klavierkon­zerte, Quartette und Quintette um die unbekannte­n Werke. Experten verkündete­n: „Was der Köchel für Mozart, ist der Marcus für Brahms.“

Sowohl Truxa als auch Marcus sind nicht mehr am Leben. Aber sämtliche dem Papierkorb entnommene­n Brahms-Noten sind für alle Zeiten gerettet. Die beiden Herren haben sie geschlosse­n der Musiksamml­ung der Stadt Wien übergeben.

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