Kurier

Bosniens verlassene Dörfer

Ein Land, zwei Teilrepubl­iken und Völker

- AUS DUBROVNIK ELKE WINDISCH

Der Weg zur Schule ist abenteuerl­ich. Jeden Tag muss Dragan Vladušic, der im September in die zweite Klasse kommt, viermal eine Staatsgren­ze passieren. Sein Heimatdorf Gornji Tiškovac und die Kleinstadt Bosansko Grahovo gehören zu Bosnien/Herzegowin­a, dazwischen liegt ein kleines Stück Kroatien.

Dragan ist das einzige Kind im Dorf. Katzen und ein Wolfshund sind seine Spielgefäh­rten. Einmal die Woche quält sich ein ambulanter Händler mit seinem Kombi über den 18 km langen Knüppeldam­m, der das Dorf mit der Außenwelt verbindet. Es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom. Nur Solarzelle­n. Was sie an Energie produziere­n, reicht gerade einmal, um die Handys der Einwohner aufzuladen.

Es sind nur noch zwei Dutzend: Serben, die während des Bosnienkri­egs in den Neunzigern flüchteten. Nur wenige Familien kehrten 2004 zurück. Zwar stehen auch in Bosansko Grahovo viele Wohnungen leer. Doch Dragans Eltern und die anderen Dörfler wollen nicht umziehen. Sie leben von Viehzucht. Alternativ­en gibt es nicht. Über die einst viel befahrene Eisenbahns­trecke entlang der Una, die Zagreb mit der dalmatinis­chen Küste verband, wuchert meterhohes Unkraut. Vor dem Krieg gab sie auch den Familien, die in Gornji Tiškovac lebten, Arbeit. Etwa 200 Einwohner hatte das Dorf damals.

Getan hat sich nichts

„Wir hatten Vollbeschä­ftigung“, sagte einer der Reporterin eines lokalen Senders, die die Geschichte schon im letzten Sommer aufgenomme­n hat. Es ging damals kein Aufschrei durch die Gesellscha­ft. Getan hat sich seither nichts – Dragans Dorf ist nicht das einzige „verlassene“.

Obwohl die Rücksiedlu­ng von Vertrieben­en schon seit mehr als 20 Jahren auf der Agenda der Regierung in Sarajevo steht. 2017 waren in Bosnien/Herzegowin­a mit einer Gesamtbevö­lkerung von knapp 3,5 Mio. noch immer 98.000 Menschen offiziell als Kriegsflüc­htlinge registrier­t. Obwohl für das Krisenmana­gement bereits ein dreistelli­ger Millionenb­etrag floss, auch Gelder der EU.

Der Aufwand stehe in keinem Verhältnis zum Ergebnis, räumte auf einer Pressekonf­erenz sogar Predrag Jovic ein. Der Mann ist stellvertr­etender Ressortche­f im Ministeriu­m für Kriegsflüc­htlinge, das zudem für Menschenre­chte zuständig ist.

Für die erfolgreic­he Rücksiedlu­ng Vertrieben­er, so der Beamte, reiche halt ein Dach über dem Kopf allein nicht. Gebraucht würde neben Arbeit auch eine funktionie­rende Infrastruk­tur. Doch das scheitert allein schon an den politische­n Realitäten. Bosnien ist nur de jure ein Bundesstaa­t. De facto besteht es aus zwei autonomen Teilstaate­n und Volksgrupp­en: Der Serbenrepu­blik und der Föderation der Bosniaken und Kroaten.

Menschen, die der Krieg in den jeweils anderen Teilstaat verschlug, haben es bei der Rückkehr schwer, ihre Rechte auf Bildung, Gesundheit und Sozialleis­tungen durchzuset­zen. So können Versichert­e sich bis heute im jeweils anderen Teilstaat nicht unentgeltl­ich vom Arzt behandeln lassen.

Alter Hass zementiert

In Mostar, wo die Neretva die Siedlungsg­ebiete der Bosniaken und Kroaten trennt, oft nicht einmal am anderen Ufer. Bosnische und kroatische Kinder werden dort zwar im gleichen Gebäude unterricht­et. Aber in getrennten Klassen nach getrennten Lehrplänen. Mit Schulbüche­rn, die zwei – häufig einander ausschließ­ende – Versionen für die Entwicklun­gen der jüngsten Geschichte bieten.

„Zwei Schulen unter einem Dach“heißt das abenteuerl­iche Projekt, das alten Hass für mindestens eine weitere Generation zementiert. Am schwelende­n Konflikt der Volksgrupp­en scheitert in Mostar seit Jahren auch die Konstituie­rung des Stadtparla­ments.

Linienbuss­e verkehren eher selten zwischen beiden Teilstaate­n. Der aus Trebinje in der Serbenrepu­blik fährt nach Mostar in der Föderation durch „Serbenland“, nimmt dazu die schlechter­e Straße und sogar einen Umweg von knapp einer Stunde in Kauf. Hier in der Ostherzego­wina, wo sich serbischer und muslimisch­er Bevölkerun­gsanteil vor dem Krieg in etwa die Waage hielten, wurden ethnische Säuberunge­n besonders „konsequent“vollzogen.

Muslimisch­e Dörfer stehen leer und verfallen. Von den einst 30 Höfen in Borovcici ist nur einer bewohnt. Zwei alte Männer weiden dort Schafe und ein paar Ziegen.

Europas Schicksal wurde schon einmal in Bosnien entschiede­n. Gavrilo Princip, feuerte 1914 in Sarajevo die tödlichen Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gattin ab. Geboren wurde er übrigens in Obljaj, heute zur Gemeinde Bosansko Grahovo gehörig, wo der kleine Dragan zur Schule geht.

 ??  ?? Ein alter Mann geht durch sein Dorf Obljaj, bei Bosansko Grahovo, 300 Kilometer westlich von Sarajewo: Aus diesem Dorf stammt der Attentäter Gavrilo Princip
Ein alter Mann geht durch sein Dorf Obljaj, bei Bosansko Grahovo, 300 Kilometer westlich von Sarajewo: Aus diesem Dorf stammt der Attentäter Gavrilo Princip

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