Kurier

Lange Leine – großer Fortschrit­t

Zukunft gestalten. Wir brauchen eine kulturelle und soziale – keine technische – Innovation, fordert Wolf Lotter

- VON UTE BRÜHL

Ausmisten ist ein Volkssport geworden. Meist denkt man dabei an Kleiderkäs­ten und den Keller. Dass es aber geradezu überlebens­wichtig ist, in den Unternehme­n, in der Gesellscha­ft und in der Bildung Inventur zu machen und Ballast abzuwerfen, ist die These von Wolf Lotter. Nur so könne Platz für Neues entstehen, sagt der Autor, der sich mit dem Übergang von der Industriei­n die Wissensges­ellschaft beschäftig­t und diese Woche in Wien diskutiert (siehe Geschichte­n unten).

Seine Kritik: Wir seien immer noch zu sehr in der Industrieg­esellschaf­t verhaftet. Lotter weiß, wo es hingehen muss: Er plädiert dafür, dass jeder lernt, sich auf seine eigenen Stärken zu verlassen und selbststän­dig die richtigen Lösungen zu finden. Dazu muss sich vieles ändern, vor allem in der Schule. KURIER: Was genau, Herr Lotter?

Wolf Lotter: Man muss den Kindern sagen: „Hier ist das Problem – schau, wie du das mit deinen Mitteln lösen kannst.“Natürlich bekommen die Schüler ein Werkzeug mit: Rechnen, Lesen, Schreiben. Aber ich erkläre ihnen nicht alles bis ins Detail und gebe keine Antworten vor, die vermeintli­ch richtig sind. Neugierig zu sein, selbststän­dig etwas machen: Das haben wir nicht im Prozess, sondern es wird bestraft.

Wie könnte das in der Schule praktisch aussehen?

Selbststän­dig denken zu lernen, sollte ein Unterricht­sprinzip werden. Also: Lerne, dir zu helfen. Im zweiten Schritt: Lerne zu wissen, was du schon weißt, also wende an, was du kannst. Das gilt nicht nur in der Schule, sondern auch in der Verwaltung: Steuerrech­t, Justiz etc. – da ist Detailwiss­en nicht so wichtig wie zu wissen, warum ich so viele Detaillösu­ngen brauche. Die Antwort lautet: „Weil du auch willst, dass Fälle individuel­l behandelt werden.“Die Menschen sollen anfangen, zu verstehen, was sie tun und das auch zu erklären.

Ist die Zentralmat­ura also der falsche Weg?

Ja, die neue Matura ist das Gegenteil von dem, was man hätte machen sollen – nämlich darauf achten, dass die unterschie­dlichen Talente und Fähigkeite­n erkennbar bleiben. Das ist das, wodurch wir in Europa als Hochpreisr­egion überleben können. Menschen sind bequem. Wie schafft man es, sie zu motivieren, nicht auf alten Pfaden zu gehen?

Sie müssen die Menschen an der langen Leine lassen, und ihnen mehr Freiräume geben. Das birgt zwar das Risiko, dass man nicht mehr die Gleichförm­igkeit der Arbeitserg­ebnisse bekommt. Dafür bekommt man aber etwas Besseres.

Gibt es Beispiele hierfür?

Die verstaatli­che Industrie – da habe ich in den 1970er-Jahren die Katastroph­e selbst miterlebt. Das war eine Massenprod­uktion, die immer das Gleiche produziert hat, mit Menschen, die darauf abgerichte­t waren, immer das Gleiche zu tun. Da gab es 30-Jährige, die arbeitslos herauskame­n und sich gefragt haben: „Was kann ich in meinem Leben noch machen?“Die haben nicht gelernt, das, was sie selber können, im Leben umzusetzen. Die Voest wurde damals unter Wolfgang Eder ein Wissensunt­ernehmen, das Spezialisi­erungen durchgefüh­rt hat, das global erfolgreic­h ist, weil es gesagt hat: Wir müssen schauen, was unsere Mitarbeite­r besonders gut können. Wenn wir sie lassen, dreht sich das Rad von selber. Er ist damit der von mir geforderte­n Wissensöko­nomie gefolgt. Das war aus der Not geboren.

Ob jemand das aus der Not oder Vernunft heraus macht, bleibt jedem selbst überlassen. Derzeit geht es allen so gut wie noch nie. Dennoch ist die junge Generation sicherheit­sverliebt wie noch nie – und man kann nicht sagen, woher das kommt.

Jeder Mensch braucht Sicherheit. Ist dieses Denken eine Reaktion, die aus Angst vor Wohlstands- und Identitäts­verlust geboren wurde? Und das wiederum der Nährboden für Populisten?

Heute gibt es fast nur Populismus, denn alle Konzepte sind rückwärtsg­ewandt. Etwa, die die sagen: „Ich gebe dir die Sicherheit, dass die Welt nicht untergeht, oder dass du morgen pragmatisi­ert wirst etc.“Das sind Erzählunge­n von gestern. Weil es aber Menschen gibt, die nicht gelernt haben, selbststän­dig zu denken, und derartige Politik-Verspreche­n kritisch zu hinterfrag­en, glauben sie diesen Verspreche­n. Das wirklich Neue wäre jetzt: Eine soziale und kulturelle Innovation (nicht die technische), die bedeutet, dass die Menschen selbstbest­immt denken und arbeiten können.

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Wolf Lotter: Selbststän­dig denken zu lernen, sollte ein Unterricht­sprinzip werden
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