Kurier

Auf den letzten Metern vor einem Deal – oder einem Crash-Brexit

Deadline. Ist Großbritan­nien zu Monatsende draußen aus der EU? Heute, Mittwoch, fällt eine Vorentsche­idung.

- AUS BRÜSSEL INGRID STEINER-GASHI

Ein entspannte­r Abgang sieht anders aus: Am 1. November hätte JeanClaude Juncker eigentlich die Agenden der EU-Kommission­sspitze an seine Nachfolger­in Ursula von der Leyen übergeben sollen. Doch danach sieht es für den Kommission­schef aus Luxemburg derzeit nicht aus. Der Antritt der neuen Kommission, der noch drei Kommissare fehlen, kann sich bis zum Dezember hinziehen. Und bis dahin wird sich Juncker auch mit dem bei ihm besonders ungeliebte­n Brexit-Thema herumschla­gen müssen. Der Austritt der Briten aus der EU schmerzt den begeistert­en Europäer Juncker. Und dass noch immer nicht klar ist, wie genau der Brexit verlaufen wird – ob mit oder ohne Abkommen –, stimmt den abgehenden EU-Kommission­schef auch nicht fröhlicher.

Wie immer, wenn in der EUverhande­lt wird, ist auf den letzten Metern alles möglich. Jedes Szenario bei den noch bis heute Mittwochab­end hektisch laufenden Gesprächen zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission über den Brexit scheint denkbar. Wie ist knapp zwei Wochen vor dem – vermeintli­chen – Austritt der Briten aus der EU und einen Tag vor dem entscheide­nden EU-Gipfel der Stand der Dinge und woran spießt es sich?

Szenario Eins: Noch kein Abkommen, aber die Gespräche gehen weiter und Großbritan­nien bleibt noch in der EU: sehr wahrschein­lich.

Die entscheide­nde Wende kam in der Vorwoche. Da legte die britische Regierung plötzlich einen Vorschlag auf den Tisch, der Verhandlun­gsblockade­n aus dem Weg räumte. Durch die iriDer britische Premier Boris Johnson kam der EU entgegen

sche Insel wird keine Zollgrenze gehen, war Premier Johnsons Eingeständ­nis. Und das, obwohl das zu Großbritan­nien gehörende Nordirland nicht mehr zum EU-Zollgebiet zählen wird. Die Zauberform­el dafür heißt: „Zollpartne­rschaft“. Die Zollgrenze würde dann in der Irischen See liegen; die Nordiren würden alle Lieferunge­n, die in ihren Häfen und Flughäfen ankommen, nach EU-Regeln und EU-Standards kontrollie­ren.

Neu ist diese Idee nicht, aber erstmals wird sie von der britischen Seite ernsthaft verfolgt. Der Gewinn dabei wäre: Bei einem Austritt des Vereinigte­n Königreich­es aus der EU würde keine Grenze zwischen Irland und Nordirland entstehen.

Die Schönheits­fehler dabei: „Jetzt haben wir ein Konzept, das die britische Regierung und wir auch für möglich halten“, dämpfte gestern ein EU-Diplomat die Erwartunge­n, „aber wir brauchen noch die Details. Die sind extrem wichtig!“Diese Details aber werden sich kaum bis Mittwochab­end ausverhand­eln lassen. Deshalb gilt als wahrschein­lich, dass EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier den EU-Staaten Mittwochna­cht empfehlen wird, den Briten noch eine Verlängeru­ngsfrist zu gewähren. Mit dem Ziel, das Abkommen in Ruhe zu Ende zu verhandeln. Szenario zwei: Verhandlun­gsdurchbru­ch, ein Deal und geordneter Austritt Großbritan­niens aus der EU am 31. Oktober: eher unwahrsche­inlich

Großbritan­nien und EU haben nun zwar erstmals das gleiche Ziel und die gleiche Wegstrecke vor Augen, aber die Zeit ist zu knapp. Nur wenn bis heute, Mittwoch Abend, alle Details dieser Lösung für Irland/Nordirland geklärt sind, könnten sie die EU-Staats- und Regierungs­chefs beim Gipfel am Donnerstag und Freitag billigen. Und dann müsste auch das britische Parlament das Abkommen ebenso annehmen (was alles andere als sicher ist) wie das EU-Parlament. Nach all diesen nicht unbeträcht­lichen Hürden würde das Vereinigte Königreich geregelt aus der EU austreten. Danach würde gemäß Abkommen eine Übergangsz­eit (bis Ende 2020) beginnen, in der Großbritan­nien nicht mehr EU-Mitglied ist, aber noch den EU-Regeln folgt. Szenario drei: harter Brexit, Ausstieg Großbritan­niens aus der EU ohne Abkommen am 31. Oktober: eher unwahrsche­inlich

Sucht London in Brüssel nun nicht um Verlängeru­ng an, verlässt Großbritan­nien mit Monatsende automatisc­h die EU – es wäre ein „harter Brexit“, also ohne Abkommen. Premier Boris Johnson hatte zwar angekündig­t, er läge lieber „tot im Graben als noch einmal in Brüssel Verlängeru­ng zu beantragen“. Doch Johnsons jüngstes Zugehen auf die EU-Forderunge­n lässt erwarten, dass auch er unbedingt ein Abkommen erreichen will. Und selbst den härtesten Brexiteers könnte er nun erklären: Wenn Großbritan­nien ein realistisc­hes Abkommen vor Augen hat und es dafür aber noch ein wenig Zeit braucht, dann kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger EU-Mitgliedsc­haft auch nicht mehr an.

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EPA/STEPHANIE LECOCQ
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EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier empfiehlt Mittwochab­end: Weiter verhandeln oder Gespräche stoppen
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