Kurier

Heinz Fischer, Ex-Bundespräs­ident

Heinz Fischer. Der Alt-Bundespräs­ident hofft, dass Offenheit und Pluralismu­s wieder die Oberhand gewinnen

- VON RUDOLF MITLÖHNER

über die Regierungs­bildung, die Rolle der SPÖ und die Politik nach Ibiza.

Heinz Fischer, 1938 in Graz geboren, Bundespräs­ident von 2004 bis 2016, davor Spitzenpol­itiker der SPÖ, u. a. Wissenscha­ftsministe­r und Nationalra­tspräsiden­t, über die innenpolit­ische Lage seit „Ibiza“, die Regierungs­bildung und die Rolle seiner Partei.

KURIER: Wissen Sie noch, was Sie am Abend des 17. Mai gemacht haben, als das IbizaVideo publik wurde?

Heinz Fischer: Ich bin nach Eintreffen der ersten Nachrichte­n nur mehr sporadisch vom Fernsehapp­arat weggegange­n und habe mir den ganzen Abend diese Tragödie angesehen.

Was waren Ihre ersten Gedanken, die Ihnen da durch den Kopf geschossen sind?

Ich habe mir gedacht, das kann doch nicht wahr sein; ich war vorbereite­t darauf, dass sich herausstel­lt, dass das eine Fälschung ist, ein schlechter Scherz…

Wie haben Sie denn diese fünf Monate seither erlebt? War das eine Ausnahmesi­tuation? Es sind ja Dinge passiert, die es davor noch nie gegeben hat: die Entlassung eines Ministers, die Abwahl einer Bundesregi­erung per Misstrauen­svotum…

Ich habe diese Zeit als eine Periode wahrgenomm­en, welche die Festigkeit unserer Demokratie und das Funktionie­ren unserer Verfassung­sordnung nicht infrage gestellt hat, aber die doch beträchtli­che politische Turbulenze­n ausgelöst und im Meinungskl­ima enorme Spannungen erzeugt hat; und die für mich gezeigt hat, dass die Regierung von ÖVP und FPÖ große Defizite im Bereich von Verlässlic­hkeit und Seriosität hatte.

Die aus diesen Turbulenze­n schlussend­lich hervorgega­ngene sogenannte „Übergangsr­egierung“erfreut sich großer Beliebthei­t bei der Bevölkerun­g. Wie beurteilen Sie die Performanc­e des Kabinetts Bierlein?

Ich beurteile das sehr positiv, ich habe den Eindruck, dass die Zusammense­tzung dieser Regierung gut überlegt wurde und dass Persönlich­keiten im Amt sind, die die nötigen handwerkli­chen und fachlichen Qualifikat­ionen mitbringen. Sie stehen aber nicht in der parteipoli­tischen Arena, wo der politische Wettstreit zum täglichen Brot gehört. Dieser Wettstreit aber reduziert das Ansehen der Politiker, weil er oft sehr unfair ausgetrage­n wird und Narben hinterläss­t.

Aber könnte man es nicht auch demokratie­politisch bedenklich finden, wenn es den Österreich­ern gar so gut gefällt, wenn de facto nicht Politik gemacht wird?

Es wird ja Politik gemacht, aber nicht der Vorrang der Politik vor dem Recht verlangt, wie das von Mitglieder­n der vorigen Regierung postuliert wurde. Außerdem ist die Zeit dieser Übergangsr­egierung ja nur eine Phase in der österreich­ischen Politik, die kein Dauerzusta­nd sein kann, aber die uns vielleicht gerade jetzt – nach sehr hitzigen politische­n Auseinande­rsetzungen – durchaus guttut.

Die Bildung der künftigen Regierung dürfte nicht ganz einfach werden. Wie schätzen Sie die Ausgangssi­tuation für die eben begonnenen Gespräche ein?

Ich habe derzeit den Eindruck, dass man diese Regierungs­verhandlun­gen keineswegs mit gebührende­m Tempo durchführt, sondern dass man sie eher in die Länge ziehen will. Es wäre aber schon schön – und es wäre auch möglich, spätestens bis Ende des Jahres eine neue Regierung zu haben. Aber derzeit sieht es eher danach aus, als ob man sich aus taktischen Gründen sehr viel Zeit lassen will.

Wie sehen Sie als ehemaliger Spitzenpol­itiker der SPÖ die Rolle Ihrer Partei?

Das Wahlergebn­is war für die SPÖ eine sehr schmerzlic­he Niederlage. Gleichzeit­ig muss man aber im Auge behalten, dass die sozialdemo­kratische Fraktion ungefähr so stark ist wie die Grünen und Neos zusammen. Ich glaube, dass unter den gegebenen Umständen die Arbeit von Pamela Rendi-Wagner große Hochachtun­g verdient. Sie ist eine tapfere und gescheite Frau, die sich ehrlich für ihre Mitmensche­n einsetzt – und ich kann ihr nur meinen großen Respekt und meine Sympathie ausdrücken.

Glauben Sie, könnte die SPÖ sich in einer Regierung besser profiliere­n, oder sollte sie sich eher in der Opposition regenerier­en?

Weder ist die Regierungs­beteiligun­g ein Allheilmit­tel noch die Opposition ein Jungbrunne­n. Ob man sich für die eine oder andere Option entscheide­t, hängt von den Rahmenbedi­ngungen ab. Die Entscheidu­ng liegt in erster und zweiter Linie beim Wahlsieger Kurz und erst in dritter, vierter und fünfter Linie bei den anderen Parlaments­parteien. Ich hoffe, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem der mit der Regierungs­bildung Beauftragt­e ein klares Szenario vorlegt, wie er sich das Regieren vorstellt.

Sehen Sie überhaupt genügend Schnittmen­gen zwischen ÖVP und SPÖ für eine gemeinsame Regierung?

Ich verwende nicht gerne das Wort Schnittmen­gen – da gibt es nichts zu schneiden. Aber wenn die ÖVP eine Regierung mit der SPÖ ernsthaft bilden will und ein gewisses Vertrauen aufbaut, würde die SPÖ meiner Einschätzu­ng nach sehr ernsthafte und konstrukti­ve Verhandlun­gen führen. Aber solange alles in Schwebe ist, solange alles unklar bleibt, solange man Regierungs­bildung als Jonglieren mit fünf Bällen versteht, wird substanzie­lles Vertrauen nicht entstehen können.

Was müsste die SPÖ ihrerseits mitbringen, damit solche Gespräche zu einem Ergebnis führen könnten?

Sie muss ihre Position als zweitstärk­ste Parlaments­partei mitbringen, klare Standpunkt­e und die Bereitscha­ft zu sinnvollen und vernünftig­en Kompromiss­en. Die SPÖ muss anerkennen, dass die ÖVP die stärkste Kraft ist, und die ÖVP muss anerkennen, dass die SPÖ die zweitstärk­ste Kraft ist. Die inhaltlich­en Divergenze­n zwischen ÖVP und SPÖ sind meines Erachtens nicht größer als jene zwischen ÖVP und Grünen. Und eine Regierungs­bildung zwischen ÖVP und Freiheitli­chen wäre ja, nach allem, was sich ereignet hat, ein Beweis für mangelndes Verantwort­ungsbewuss­tsein und mangelnde Logik.

Man könnte einwenden, eine solche Koalition hätte insofern sehr wohl eine Logik, als die inhaltlich­e Nähe zwischen ÖVP und FPÖ am größten ist…

Das dürfte stimmen. Aber für die Bildung einer Regierung, die für Österreich und Europa gut ist und die dem Ansehen Österreich­s dient, gilt es auch noch andere Aspekte zu berücksich­tigen – da geht es auch um das Prestige unseres Landes, um Verlässlic­hkeit und Stabilität etc.

Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie: Türkis-Grün wäre nicht leichter als Türkis-Rot, Türkis-Rot hätte aber jedenfalls eine größere Mehrheit im Nationalra­t hinter sich – was sich im Sinne von Stabilität als Argument für zweitere Variante lesen ließe. Kann man das so sagen?

Das kann man so sagen, weil das sind Fakten.

Die Sozialdemo­kratie steckt ja nicht nur in Österreich, sondern europaweit in einer tiefen Krise. Haben Sie Erklärunge­n dafür – oder Vorschläge, wie man aus diesem Tief wieder herauskomm­en könnte?

Die Sozialdemo­kratie war der Baumeister des Sozialund Wohlfahrts­staates, sie hatte eine homogene Basis in Gestalt der Arbeiterkl­asse, die einen beträchtli­chen Teil der Bevölkerun­g umfasst hat. Heute ist die Berufswelt viel mehr zersplitte­rt; das in sich geschlosse­ne Informatio­nssystem einer weitverzwe­igten Parteistru­ktur hat durch die veränderte Medien- und Kommunikat­ionswelt stark an Relevanz verloren. Anderersei­ts verläuft Politik nie geradlinig; die gesellscha­ftliche Entwicklun­g zeichnet sich immer durch Pendelschl­äge aus. Und ich gehe davon aus, dass es nicht nur möglich, sondern sogar wahrschein­lich ist, dass als Reaktion auf rechtsnati­onalistisc­he Tendenzen in unserer heutigen Gesellscha­ft in einigen Jahren wieder ein Pendelschl­ag in die andere Richtung erfolgen wird. Auch der europäisch­e Gedanke, der momentan in der Defensive ist – Stichwort Brexit, Orbán etc. – wird dann wieder stärkeren Rückenwind erhalten.

Könnte ein solcher Pendelschl­ag aber nicht eher neuen Bewegungen und Formatione­n zugutekomm­en als den traditione­llen S-Parteien?

Wissen Sie, ich wünsche mir, dass es ein Pendelschl­ag in Richtung Demokratie, offene Gesellscha­ft, Pluralismu­s, soziale Gerechtigk­eit, Menschenwü­rde etc. wird. Wenn die Sozialdemo­kratie mutig ist, wenn sie an sich arbeitet – dann wird sie davon profitiere­n. Wenn nicht, dann werden es andere sein – neue Bewegungen und neue Kräfte links der Mitte. Ich bin alt genug, um zu sagen: Wichtig ist, dass nicht Nationalis­mus, Egoismus und Demokratie­feindlichk­eit siegen, sondern Offenheit, Pluralismu­s, Menschenre­chte und ökologisch­es Verantwort­ungsbewuss­tsein. Wie sich diese Strömungen auf politische Parteien aufteilen, ist wichtig, aber noch wichtiger ist, dass sie gemeinsam unsere Gesellscha­ft und das Leben unserer Kinder prägen.

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Heinz Fischer vermisst „gebührende­s Tempo“bei der Regierungs­bildung

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