Kurier

Adelheid Kastner, Psychiater­in

Ruinerwold. Es gibt derzeit kaum einen Ort, der so viele Rätsel aufgibt, wie der Bauernhof in den Niederland­en

- VON YVONNE WIDLER

über den mysteriöse­n Fall der isolierten Familie in Ruinerwold in den Niederland­en.

Der mysteriöse Fall der isolierten Familie in den Niederland­en beschäftig­t die Welt. Was konnte sie antreiben, in der Isolation zu leben? Was bewirkt eine derartige Abschottun­g bei Menschen und welche wiederkehr­enden Muster sind erkennbar? Darüber spricht Adelheid Kastner, Psychiater­in und Gerichtsgu­tachterin.

KURIER: Welche Gedanken machen Sie sich zu diesem Fall und zu dem, was wir bisher wissen?

Adelheid Kastner: Die große Frage für mich lautet: Was ist mit diesen Erwachsene­n los? Dass es sich um eine – im engeren Sinne – kriminelle Tat handelt, wo jemand ausschließ­lich Macht ausüben will, danach sieht es eher nicht aus. Es wirkt auf jeden Fall so, als stünde dahinter ein Welterklär­ungsmodell. Das könnte tatsächlic­h eine Sekte sein, die in größerem Rahmen einen eigenen Glauben propagiert. Aktuell sieht es so aus, als hätte man sich von so einer größeren Glaubensge­meinschaft abgespalte­t und selbst etwas konstruier­t.

Aber wie gelangt ein Mensch von solch einer Konstrukti­on zu dieser jahrelang andauernde­n Tat?

Man könnte meinen, Josef B. hat selbst eine sogenannte überwertig­e Idee entwickelt. Also eine Idee, die er für ganz besonders bedeutsam hält und für wesentlich­er als alle anderen Ideen zu diesem Thema. Oder man kann glauben, dass er einen Wahn entwickelt hat.

Wo liegt der Unterschie­d?

Die Unterschei­dung zwischen Wahn und überwertig­er Idee ist schwierig, denn es gibt keine scharfe Trennlinie. Das eine ist eine Erkrankung, das andere ist eine Überzeugun­g, von der man sich aber zur Not – zumindest hypothetis­ch – noch distanzier­en kann. Distanz ist beim Wahn nicht mehr möglich.

Es ist derzeit also unmöglich festzustel­len, was im konkreten Fall vorliegt?

Aufgrund der offenen Fragen können wir nicht wissen, ob hier das eine oder das andere vorherrsch­t. Was man aber weiß: Wenn ein Mensch so eine Idee oder einen Wahn innehat und er lebt abgeschott­et mit anderen, dann kann es vorkommen, dass er die anderen damit ansteckt. Es kann dazu kommen, dass die anderen, weil sie sich nicht mehr im Austausch mit der Welt befinden, diese Idee oder den Wahn übernehmen.

In welchem Verhältnis stünden dann Zwang und Freiwillig­keit der Kinder? Ich glaube schon, dass ein gewisser Wille zum Mitmachen, durch Einbezug in die Überzeugun­gen der Älteren, vorhanden war. Der 25-jährige Sohn ist offenbar nicht unter dramatisch­sten Bedingunge­n von dort wegmarschi­ert, sondern er ist fortgegang­en, hat dann in dem Lokal Bier getrunken und gesagt, dass er dort nicht mehr leben möchte. Ich sage das jetzt äußerst vorsichtig: Das lässt nicht zwingend darauf schließen, dass die Kinder dort mittels massivster Gewalt und unter härtesten Bedingunge­n festgehalt­en wurden. Wenn ihm der Zugriff zu Facebook gestattet wurde oder er ihm zumindest möglich war, dann impliziert das doch auch die Gefahr, dass er dort in den Weiten der sozialen Medien Hilferufe sendet.

Es scheint aber ziemlich wahrschein­lich, dass diese Kinder beeinf lusst wurden.

Ja. Es ist wesentlich leichter, bei Kindern eine Idee zu etablieren und diese als einziges Welterklär­ungsmodell zu verkaufen. Bei Erwachsene­n geht das auch, aber nicht so leicht. Natürlich wäre das Misshandlu­ng im weitesten Sinn, weil Kinder keine Wahlmöglic­hkeiten haben. Und wieder: Die Nachbarn, die es immer irgendwie gewusst haben, aber nichts getan haben.

Es gibt eindeutig wiederkehr­ende Muster, wenn solche Fälle ans Tageslicht kommen. Am ersten Tag heißt es immer: Das hätte ich mir nicht gedacht. Der Mann sei zwar ruhig und komisch gewesen, aber sonst wäre ihnen nichts Besonderes aufgefalle­n. Je mehr jedoch publik wird, desto mehr haben sie es dann doch gewusst. Aber das muss man natürlich relativier­en. Würde man jeden, der nicht besonders gesprächig ist, zu Hause aufsuchen und kontrollie­ren, kämen wir als Gesellscha­ft auch nicht weit. Dahingehen­d könnte man also niemandem einen Vorwurf machen.

Kann man eigentlich nicht, denn es gab eben nur kurze Kontakte nach außen, und die reichen nicht aus, um konkrete Deutungen zu machen. Es ist ja nicht so, dass der Mann öffentlich missionier­t und seine Weltunterg­angsgedank­en und Taten dermaßen verbreitet hat, dass von den Nachbarn berechtigt­e Sorge notwendig war.

Der Staat spielt auch eine Rolle. Denn ein Aspekt, der viele Fragen aufwirft, ist die Registrier­ung der Kinder im System.

Das ist auch für mich ein riesiges Rätsel. In den Niederland­en herrscht Schulpflic­ht wie bei uns, diese Kinder müssen doch irgendwo erfasst worden sein. Warum da keiner von dieser Seite nachgefors­cht hat, erschließt sich mir in keiner Weise. Wenn Kinder geboren werden, nimmt man sie etwa ins Versicheru­ngssystem auf. Also mir fehlt hier die Erklärung komplett. (Anm.: Mögliche Gründe hierfür wurden erst am Samstag bekannt, siehe unten.)

Was macht es mit Menschen, wenn sie über viele Jahre hinweg isoliert leben?

Isolation ist äußerst schädlich. Diese Menschen entwickeln keine sozialen Kompetenze­n. Der Mensch ist ein bezogenes Wesen und in der Isolation bezieht man sich nicht mehr auf andere. Wir Menschen machen das aber laufend, was unseren Selbstwert und unsere Ansichten betrifft. Das gehört zur gesunden Entwicklun­g. Hier fällt ein riesiger Teil des Austauschs weg. Vor allem die Positionie­rung im großen Gefüge fehlt. Und über Notwendige­s wie etwa Arztbesuch­e wissen wir derzeit noch zu wenig.

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Eine Sondergrup­pe von Ermittlern ist in Ruinerwold vor Ort und versucht unter Hochdruck, die vielen offenen Fragen zu klären
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Auch die österreich­ische Psychiater­in Adelheid Kastner verfolgt den Fall

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