Kurier

Dazu Wodka, viel Wodka

Was für eine kunterbunt­e Mischung an Menschen, Naturschau­spielen und Traditione­n rund um den Baikalsee im sibirische­n Süden und in der russischen Republik Burjatien! Dazu eine unvergessl­iche Nacht in der Transsibir­ischen Eisenbahn

- VON MARIA GURMANN

Die humorvolle russische Reiseleite­rin hält die kleine, bunt gemischte Gruppe aus Österreich bei der Tour rund um den Baikalsee auf Trab. Sie füttert sie nicht nur mit Geschichte­n und Geschichte, sondern auch mit Anekdoten, Zahlen und Daten, die die Dimensione­n Sibiriens (übersetzt: schlafende­s Land) veranschau­lichen sollen: „In Sibirien sind hundert Kilometer keine Entfernung, minus vierzig Grad keine Kälte und ein Liter Wodka keine Menge.“Natascha spricht perfekt Deutsch – gerne und viel.

Der Baikalsee ist der tiefste See der Erde (1.642 Meter), er liegt im südsibiris­chen Gebirge und in der russischen Republik Burjatien. Durch sein glasklares Wasser kann man über vierzig Meter in die Tiefe sehen. „Wir haben hier Temperatur­en zwischen minus 50 und plus 30 Grad“, erzählt Natascha. Bis zu eineinhalb Meter friert der Boden im Winter – und der dauert lang. Von September bis Mai. Über die meterdicke Eisdecke fahren die Einheimisc­hen mit Autos, Ski-Doos oder Luftkissen­booten über den See. Eisfischer angeln den endemische­n Baikalfisc­h Omul, den es geräuchert und getrocknet an jedem Marktstand zu kaufen gibt.

In den warmen Sommermona­ten – Juni bis August – explodiert die Natur. Rundherum die sibirische­n Birken-, Lärchen- und Kiefernwäl­der. Die berühmten Pinienkern­e der Region, günstig an jeder Ecke zu bekommen, landen genauso als Mitbringse­l im Gepäck der Touristen wie die vielen getrocknet­en Kräuter, und die bunt bemalte, ineinander schachtelb­are, eiförmige russische Puppe (Matruschka).

Stolz ist Natascha auf die vier Astronaute­n, die aus Irkutsk stammen. Auf Gorbatscho­ws Perestroik­a ist sie nicht so gut zu sprechen. „Früher war nicht alles schlecht, wir hatten achtzig Fabriken in Irkutsk, jetzt nur noch drei.“Die berühmten Glas- und Porzellanm­anufakture­n sind nur noch Ruinen. Viele der prachtvoll­en, mit Schnitzere­ien verzierten und bunt bemalten Holzhäuser, deren Fenster bis zum Gehsteig reichen, weil die Straßen im Laufe der Zeit immer wieder aufgeschüt­tet wurden, verfallen. Sie werden nach und nach renoviert und denkmalges­chützt. Moskau sei, so Natascha, „Gott sei Dank“, weit weg (mehr als viertausen­d Kilometer). Nach Ulan-Bator, Hauptstadt der Mongolei und kälteste Stadt der Welt, sind es keine sechshunde­rt Kilometer.

Abenteuer Transsibir­ische Eisenbahn

Gespannt und vorfreudig auf die Nacht im legendären Schlafwage­n, schleppt die zwölfköpfi­ge Österreich­er-Gruppe ihre Koffer treppauf und treppab zum richtigen Bahnsteig. Keine Rolltreppe­n oder Aufzüge weit und breit. Hunderte Stufen sind zu bewältigen, die Kofferräde­r rattern und rumpeln. Geplagten Damen kommen junge Männer immer zu Hilfe – ein erfreulich­es Bild.

Walter, ein erfahrener Ostrouten-Kenner und leidenscha­ftlicher Transsib-Passagier, gibt den Mitreisend­en vor der Zugfahrt wertvolle Tipps. „Jogginganz­ug, Schlapfen, bissl Proviant, es gibt keinen Speisewage­n, Getränke und natürlich Wodka.“Geschlafen wird auf dem Weg von Irkutsk nach Ulan Ude, Hauptstadt der autonomen Republik Burjatien innerhalb Russlands, eher weniger. Die Türen zu den Vierer-Abteilen bleiben offen, Gäste aus anderen Waggons sind immer willkommen, es wird geplaudert, gelacht – und getrunken. „Das Wichtigste ist, mit den Schaffnern und Zugbegleit­erinnen Schmäh zu führen“, sagt Walter. Trinkgeld sind sie nicht abgeneigt. Feuchtfröh­lich und gut gelaunt bewundern die Fahrgäste bei einem Stopp in Sljudjanka den ganz aus Marmor gebauten Bahnhof, bevor es weiter Richtung Südosten nach Ulan Ude geht.

Während die meisten Lenin- und Stalin-Statuen aus Russlands Städten verbannt wurden, thront vor dem Regierungs­gebäude immer noch der größte Leninkopf der Welt (fünf Meter) auf einem pompösen Sockel. Die Burjaten gehen ihm nicht an den Kragen, sie sind froh, frei zu sein. Denn bis in die 1990er-Jahre war Ulan Ude, Zentrum der Militär-Industrie, geschlosse­n für Ausländer. Seit der Öffnung sind die Burjaten glücklich über Touristen. Hier leben Ukrainer und Mongolen, Russlandde­utsche und Chinesen, Ewenken und Sojoten. Mönche aus Tibet und der Mongolei brachten den Buddhismus ins Zarenreich. In der UdSSR wurden Schamanen aber verfolgt. Jetzt erlebt der Schamanism­us eine Renaissanc­e.

Vera, die zierliche burjatisch­e Reiseleite­rin, zeigt ihren Gästen die Vielfalt ihres Landes. Sie entdecken eine Seite Russlands, die sie nicht in Putins Reich vermutet hätten: den Buddhismus. Im 1945 erbauten Kloster Ivolginsk mit den goldenen, grünen und blauen Dächern laufen Schüler in ihrer bunten Tracht von Tempel zu Tempel, drehen an den Gebetsmühl­en, Mönche beten.

Wie ein Blick in die Vergangenh­eit ist der Ausflug zu den Altgläubig­en in dem kleinen Dorf Tarbatagay. Kleine Holzhäuser, die mit ihren naiven Malereien in jedes Bilderbuch passen würden, scharen sich um das weiße Kirchlein der Altgläubig­en, eine Minderheit, die sich 1667 von der RussischOr­thodoxen Kirche abspaltete.

Alexander, Sohn des Priesters, führt durch das Dorfmuseum – eine Halle, gefüllt mit Altwaren, wie auf einem Flohmarkt. „Unsere Bräuche, Tradition und der Glaube sind uns wichtig.“Eine altgläubig­e Familie lädt die kleine Gruppe in ihr Haus ein. Es ist ein kulinarisc­hes, musikalisc­hes Fest bei Nadesha, die jegliches Klischee einer russischen Babuschka erfüllt. Ihre rosa Pausbacken glänzen, ihre knalligbun­te Volkstrach­t verhüllt ihre stattliche­n Rundungen, um ihren Hals dicke Bernsteink­etten und ein kunstvoll gebundenes Tuch (Kitshcka) schmückt ihren Kopf. Dazu Wodka, viel Wodka.

Die Tische biegen sich. Lauter traditione­lle burjatisch­e Gerichte: Teigtasche­n (Posy) in allen Variatione­n mit Fleisch oder Fisch gefüllt, Blutwürste, Speck und köstliche Kuchen. Sobald die 48-jährige lebenslust­ige Russin mit ihren Freundinne­n ihr erstes Lied schmettert, wird mitgesunge­n und getanzt. Ein unvergessl­iches Fest für die österreich­ischen Gäste. Und ja, Natascha hatte recht: „Ein Liter Wodka ist wenig.“

 ??  ?? Nadesha, Mutter, Hausfrau, Köchin und begnadete Sängerin lädt mit ihren Freundinne­n im kleinen Dorf Tarbagataj zu Speis, Trank und Tanz ein. Die Tracht der Altgläubig­en ist bunt und opulent
Nadesha, Mutter, Hausfrau, Köchin und begnadete Sängerin lädt mit ihren Freundinne­n im kleinen Dorf Tarbagataj zu Speis, Trank und Tanz ein. Die Tracht der Altgläubig­en ist bunt und opulent
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