Kurier

Wie Trauernde Kraft schöpfen

Trauerarbe­it. Eine Wienerin verlor ihren Sohn und erlebte größten Schmerz. Durch Gespräche und Selbsthilf­egruppen konnte sie neue Kraft schöpfen. Einrichtun­gen bieten Betroffene­n profession­elle Unterstütz­ung.

- VON UWE MAUCH

Eine Wienerin konnte dank Unterstütz­ung mit dem Tod ihres Sohnes Frieden schließen. Auch für Angehörige gibt es Hilfe.

Sie kann heute offen darüber reden. Dabei laufen ihr Tränen über die Wangen. Aber sie kann darüber reden. Ein großer Schritt vorwärts – nach einem weiteren schwierige­n Jahr in ihrem Leben.

Darüber: „Mein Sohn ist vor gut einem Jahr, in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2018, in ein fremdes Haus gegangen und aus dem vierten Stock gesprungen.“

Es ist in diesem Moment in der Kontaktste­lle Trauer auf dem Wiener Stephanspl­atz noch stiller als sonst. Kathrin Unterhofer, die Teamleiter­in, presst ihre Lippen zusammen. Sie kennt die Geschichte der 58-jährigen Wienerin, sie kennt viele andere Leidensges­chichten. Von Menschen, die regelmäßig in diese Einrichtun­g der Caritas kommen und um profession­elle Unterstütz­ung im Umgang mit ihrer Trauer bitten (siehe unten).

Sein halbes Leben

Der Sohn der Trauernden, nennen wir ihn Leon („Leon hat ihm immer gut gefallen“), wurde gerade einmal 29 Jahre alt. Und das nicht glücklich, wie seine Mutter weiß: „Sein halbes Leben hat er unter Depression­en und Angstzustä­nden gelitten.“

Leons zähes Ringen begann mit 15. Da hat er erstmals signalisie­rt, dass er psychische Probleme hat. Als er 19 war, hieß es von ärztlicher Seite noch immer, dass sein Leiden doch auch altersbedi­ngt sein könnte.

Seine Mutter ließ nichts unversucht. Das kann sie nach Monaten des Zweifelns und Grübelns erstmals überzeugt von sich behaupten. Sie stand auch zu ihrem Sohn, als dieser ihre Hilfe ablehnte und auf eigene Faust versuchte, seine Krisen mit Alkohol und anderen Drogen in den Griff zu bekommen. Er tat das wohl auch deshalb, weil er sich schämte, weil er dachte, er müsse allein damit zurechtkom­men, und weil sich in der großen Stadt kein profession­eller Helfer fand, der ihm länger zuhören wollte, um seine prekäre Situation richtig einzuschät­zen und ihn erfolgreic­h zu behandeln.

Die Schilderun­g schnürt ihr noch immer die Kehle zu. Doch die Erzählung stockt nur kurz. Die Mutter von Leon kann heute zu ihren naturgemäß aufgewühlt­en Gefühlen stehen: „Nachdem ich 15 Jahre lang als Alleinerzi­eherin von zwei Söhnen und als Angestellt­e in der Erwachsene­nbildung immer nur funktionie­rt habe.“

Zweimal hat sich ihr Kind tiefe Schnitte zugefügt und schwer verletzt. Kein schöner Anblick. Dazu so viel Angst, so viel Sorge. Die Mutter von Leon wird diese Momente nie vergessen. Immer in Erinnerung behalten wird sie aber auch das Lächeln ihres Sohnes an den guten Tagen in seinem insgesamt kurzen Leben. „Und seine Warmherzig­keit.“Beim dritten Mal machte Leon ernst. Und plötzlich wurde es ganz ruhig im Leben seiner Mutter: „Erst meldete er sich nicht mehr am Telefon, dann standen die Beamten von der Kriminalpo­lizei vor meiner Tür. Da wusste ich insgeheim längst, was passiert war.“Auf die Frage, wie sie die Nachricht vom Suizid ihres Sohnes aufgenomme­n hat, erklärt die Hinterblie­bene: „Überrasche­nd gefasst. Zuvor raste jedes Mal mein Herz, wenn es wieder eine Hiobsbotsc­haft gab. Aber an diesem Abend spürte ich zum ersten Mal kurzfristi­g eine Entlastung. Weil mir bewusst wurde, dass die Zeit des Bangens und seines unerträgli­chen Leidens nun endgültig vorbei war. Es hatte fast etwas Erlösendes.“Kathrin Unterhofer nickt. Diese Reaktion ist für die erfahrene Trauerbegl­eiterin nicht außergewöh­nlich. Auch die wellenarti­gen Gemütsverä­nderungen in den Wochen und Monaten danach nicht. Zur inneren Ruhe durch den Schock paart sich bald die Scham, weil Suizid noch immer ein Tabuthema ist. Erst dann kommen der Schmerz und die völlige Erschöpfun­g.

Trauer und Vertrauen

In der Kontaktste­lle Trauer werden leistbare Einzelbetr­euungen und die Teilnahme an moderierte­n Selbsthilf­egruppen angeboten. Diese haben auch der Mutter von Leon innerhalb eines schwierige­n Jahres geholfen: „Dort habe ich verstanden, dass der Tod eines eigenen Kindes immer ein Stück weit unbegreifl­ich bleibt. Dass er etwas Übermächti­ges ist. Und dass man damit Frieden schließen kann. Das ist ein langsamer Prozess, das ist Arbeit. Immerhin, die Unerträgli­chkeit des Schmerzes lässt nach.“

Die Erkenntnis, dass ihr Sohn nicht weiter leiden muss, hilft. Entlastet. Gemerkt hat sie sich den Satz einer Therapeuti­n: „Trauern bedeutet auch lieben.“

Heute kann sie sich über einen Schmetterl­ing freuen. Oder über ein paar unbeschwer­te Stunden. Oder sie erkennt im einjährige­n Sohn von Leons bestem Freund ihr eigenes Kind. „Wenn ich sehe, wie der Bub lächelt, denke ich mir, dass Leon zwischen uns weiterlebt und jetzt hoffentlic­h an einem besseren Ort ist.“

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„Der Tod eines eigenen Kindes bleibt immer ein Stück weit unbegreifl­ich“, sagt die Mutter. „Er ist etwas Übermächti­ges“
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