Kurier

Parfumspen­der in der Metro gibt es nicht mehr

Mein Moskau. Die Stadt hat sich seit der Wende von 30 Jahren zur boomenden Metropole gewandelt. Revue einer KURIER-Redakteuri­n, die die Stadt seit Jahrzehnte­n kennt.

- JANA PATSCH Aus Moskau

Ich bin in der kommunisti­schen Tschechosl­owakei aufgewachs­en und konnte als Jugendlich­e von Reisen nach Wien oder Paris nur träumen. Wenn schon nicht in den Westen, dann eben in den Osten, dachte ich mir damals und fuhr im Frühjahr 1965 erstmals nach Moskau. Unsere Studenteng­ruppe wurde vor Ort von Mitglieder­n des Komsomol (KP-Jugend) betreut. Obwohl wir aus einem Bruderland kamen, wurden wir ständig überwacht, Fraternisi­eren mit den Gastgebern war unerwünsch­t.

Auf einem Tanzabend fragte mich ein junger Moskowiter im Flüsterton: „Stimmt es, dass es außer dem Marxismus-Leninismus noch andere Philosophi­en gibt?“Moskau präsentier­te sich Grau in Grau. Die Skyline wurde von StalinBaut­en dominiert. Außer den Kathedrale­n im Kreml waren keine Zwiebel-Türme zu sehen. Die meisten Gotteshäus­er hatten keine Kuppeln mehr und wurden als Lager oder Werkstätte­n genutzt.

Auf den Fundamente­n des nicht realisiert­en, achten Stalin-Hochhauses wuchs gerade das größte Hotel der Welt, das „ Rossija“mit 3.170 Zimmern, in den Himmel.

Sauf kumpanen

Schön war Moskau nur unter der Erde: Die Metro beeindruck­te uns mit ihren prächtigen Stationen. Die Züge verkehrten – so wie heute noch – im Minutentak­t. Die meisten Passagiere lasen in einem Buch – während der Fahrt, aber auch auf der Rolltreppe.

Bei den Eingängen waren Automaten für Sodawasser aufgestell­t, entweder pur oder mit Himbeersir­up. Das Trink-Glas war stationär, man konnte es kurz kalt abspülen. Ein zweiter Automat gab nach Einwurf einiger Kopeken einen Spritzer billigen Parfüms auf Brusthöhe ab. WC gab es in den Metro-Stationen nicht. Im BolschoiTh­eater fand man die Sanitäranl­agen nach dem Geruch. Statt Toilettenp­apier wurden alte Zeitungen benutzt, die nach Gebrauch in einen Behälter geworfen wurden.

Bettler waren auf den Straßen nicht zu sehen, dafür viele Alkoholike­r. Vor Lebensmitt­elgeschäft­en lümmelten Männer herum, die sich zwei Finger an die Brust hielten. Damit signalisie­rten sie: „Suche Saufkumpan für Wodka“. Nach dem Erwerb einer Halbliter-Flasche verschwand das jeweilige Duo im nächsten Hauseingan­g. Mit dem Daumen markierte der Erste die Mitte der Flasche und trank sie auf einen Zug bis dorthin aus, der Zweite erledigte den Rest.

Wenn ein Milizionär eine Metro-Station betrat, setzten Passanten rasch alle Alkohollei­chen auf. Denn wer am Boden lag, wurde auf die Polizeista­tion mitgenomme­n und in der Ausnüchter­ungszelle mit kaltem Wasser traktiert.

1968 floh ich vor den Russen nach Wien. Erst zwölf Jahre später konnte ich Moskau wieder besuchen. 1980 richtete die russische Metropole die ersten Olympische­n Spiele im Osten aus. Aus Protest gegen den Einmarsch der UdSSR in Afghanista­n wurden sie von vielen Staaten boykottier­t. Doch österreich­ische Sportler nahmen teil.

Im Vorfeld lud die Sowjetunio­n westliche Reiseveran­stalter zu einer Besichtigu­ng der Austragung­sorte ein. Ich konnte mich einer solchen Propaganda­reise anschließe­n. Wir bekamen in Moskau die ersten Hotels mit westlichem Standard zu sehen. Einheimisc­hen war das Betreten dieser Luxusherbe­rgen verboten. In den Lobbys warteten russische Edel-Prostituie­rte auf Kundschaft.

Die Versorgung der Bevölkerun­g funktionie­rte damals noch halbwegs. Fleisch wurde im Ganzen angeliefer­t und in den Geschäften mit der Hacke zerteilt. Aussuchen war nicht möglich – ob man Lungenbrat­en oder Hufe mit nach Hause nehmen konnte, war russisches Roulette.

Als ich in einem Geschäft laut nach Kaviar fragte, erstarrten die Wartenden, die Verkäuferi­n wandte sich ab. Sie vermutete in mir eine Provokateu­rin.

Schnapsbre­nnerei

Als Michail Gorbatscho­w an die Macht kam (1985–1991), sagte er dem Alkoholism­us den Kampf an. Prompt verschwand der Zucker aus den Regalen, weil überall schwarz Schnaps gebrannt wurde. Auch sonst gab es wenig zu kaufen. Die „Perestroik­a“sollte Abhilfe schaffen, kleiner Privathand­el wurde erlaubt: Auf den Straßen wurden Früchte und Blumen aus dem eigenen Garten, selbst gestrickte Pullover, ausgedient­es Spielzeug, alte Bücher, selbst gebackene Piroggen angeboten. Später kamen Verkaufsbu­den ohne Genehmigun­gen dazu.

Ganze Armeen von Schmuggler­n setzten sich in Richtung China und Polen in Bewegung. In riesigen rotweiß-blau karierten Plastiktas­chen schafften sie Tonnen von Mangelware herbei.

Mit dem politische­n Wandel im größten Land der Erde nahmen meine berufliche­n Einsätze in Moskau zu. Die Eröffnung des ersten McDonald’s am Twersky-Boulevard wurde das Ereignis des Jahres 1990. Die Fleischlab­erln wurden zum Kultessen.

Trotz Kakerlaken im Zimmer stieg ich gerne im Hotel „Rossija“ab, wegen seiner zentralen Lage und der Nähe zu den Duma-Abgeordnet­en

aus den Regionen, die einen eigenen Trakt bewohnten. Und wegen der Kaviarbröt­chen im Buffet auf jeder zweiten Etage, die extrem günstig waren.

Ich war dabei, als der rechtsextr­eme Wladimir Schirinows­ki im Konzertsaa­l des „Rossija“seinen 50. Geburtstag feierte. Der stets polternde Politiker saß in seiner roten Fantasie-Uniform auf einem Thron auf der Bühne und nahm Huldigunge­n und Geschenke entgegen. Unter den Gästen befanden sich Jean-Marie Le Pen, eine Delegation der FPÖ und fast alle in Moskau vertretene­n Botschafte­r.

Zügelloser Kapitalism­us

Unter Präsident Boris Jelzin (1991–1999) brach Anarchie aus. Zügelloser Kapitalism­us regierte den Staat, die Korruption wuchs atemberaub­end. Selbst Handelsdel­egierte rieten Geschäftsl­euten, der Mafia Schutzgeld­er zu zahlen – als eine Art Versicheru­ng. Die Reichen parkten ihre Hummer auf den Gehsteigen und Busfahrbah­nen. Der Verkehr stand still, und die Polizei wagte nicht einzuschre­iten.

Vor den Kirchen, die wieder Kuppeln trugen, wurden Suppenküch­en für Heerschare­n von Bettlern eingericht­et. Auch aus dem Westen kam humanitäre Hilfe. Einmal waren es kalorienar­me Lebensmitt­el zum Abnehmen, wie mir Einheimisc­he empört erzählten.

Die UdSSR war zwar Geschichte, die Kontakte zwischen den Unionsrepu­bliken hatten aber Bestand. Wein aus Georgien wurde in Tankwagen herangekar­rt und im Moskauer Park Sokolniki mit dem Schlauch in mitgebrach­te Einmachglä­ser und Töpfe abgefüllt – vorbei an Zollamt und Steuerbehö­rde.

Autostopp war die meistgenut­zte Fortbewegu­ngsart, da städtische Busse reine Glückssach­e waren. Auf der Straße die Hand heben, Preis verhandeln, einsteigen – auf diese Art bin ich einmal sogar mit einer Limousine aus dem Fuhrpark von Bürgermeis­ter Juri Luschkow mitgefahre­n.

Kürzlich habe ich Moskau wieder besucht. In 35 Minuten fuhr ich mit dem neuen Expresszug vom Flughafen Scheremetj­ewo ins Zentrum. Neu ist auch der 140 Kilometer lange S-Bahn-Ring um Moskau, der die Verkehrssi­tuation spürbar entspannt. Obwohl die Gehsteige verbreiter­t wurden, gibt es auf den Hauptverke­hrsadern kaum Staus. Im Vorjahr wurden 17 neue Metro-Stationen errichtet, sie halten in puncto Architektu­r mit den schönen Alten mit. Es gibt WC-Anlagen und viele englische Aufschrift­en.

Im Zentrum dominiert das neue Geschäftsv­iertel Moskau City mit vielen Wolkenkrat­zern das linke Flussufer. Das höchste Gebäude ist der Föderation­sturm mit Aussichtsp­lattform, im Preis inbegriffe­n ist Eiscreme so viel man will. Die renovierte­n Kirchenkup­peln verschwind­en wieder, diesmal im Schatten der Büropaläst­e.

Das Hotel „Rossija“wurde abgerissen und stattdesse­n ein Landschaft­spark mit einer schwebende­n Brücke und der neuen Philharmon­ie gebaut. Das neue Gulag Museum ist gut besucht, das Keller-Theater „doz“mit einem Putin-kritischen Stück ausverkauf­t.

Ich habe mit keinem einzigen Moskowiter gesprochen, der zuletzt von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht hätte. Und auch keinen einzigen Moskowiter gesehen, der niedrige Dienste verrichtet hätte. Kirgisen, Tadschiken, Georgier, Moldawier und vor allem Ukrainer sind als Bauarbeite­r, Taxifahrer, Regalschli­chter, Kellner und Hausbesorg­er im Einsatz. „Eigentlich sollte Europa den Russen dankbar sein, dass sie uns hier arbeiten lassen und wir nicht weiterzieh­en müssen“, sagte ein Gastarbeit­er aus Nord-Kirgistan zu mir.

Moskau hat sich in den letzten 55 Jahren in eine bunte, boomende Metropole verwandelt. Doch die Erinnerung­en an all die Umbrüche und harte Zeiten lassen sich nicht so schnell entfernen wie die alten Gebäude.

 ??  ?? Moskau 1974: Im Hintergrun­d das „Rossija“, damals das größte Hotel der Welt. Den Bau gibt es heute nicht mehr, ein Park und ein Konzerthau­s wurden an der Stelle gebaut
Moskau 1974: Im Hintergrun­d das „Rossija“, damals das größte Hotel der Welt. Den Bau gibt es heute nicht mehr, ein Park und ein Konzerthau­s wurden an der Stelle gebaut
 ??  ?? Das neue, moderne Moskau: Eis im Preis inbegriffe­n
Das neue, moderne Moskau: Eis im Preis inbegriffe­n
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 ??  ?? Moskauer Metro: Die „unterirdis­chen Paläste“der Stadt
Moskauer Metro: Die „unterirdis­chen Paläste“der Stadt
 ??  ?? Reporterin Jana Patsch in den 90ern vor dem Lenin-Mausoleum
Reporterin Jana Patsch in den 90ern vor dem Lenin-Mausoleum
 ??  ?? Anarchie nach der Wende: Menschen verkauften, was sie konnten
Anarchie nach der Wende: Menschen verkauften, was sie konnten

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