Kurier

„Die armen Christen gehen in den Libanon, die reichen nach Europa“

Interview. Griechisch-orthodoxer Bischof Elias Toumeh befürchtet, dass viele Christen Syrien verlassen werden.

- VON MICHAEL HAMMERL

KURIER: Ihre syrische Heimatstad­t Homs war in den vergangene­n Jahren oft Schauplatz von Gefechten. Wie ist derzeit die Situation? Elias Toumeh: Besser. Es gibt derzeit keine militärisc­hen Aktionen oder Kämpfe. Aber wir haben zwei große Probleme. Vor allem Jugendlich­e wollen das Land verlassen, weil sie sonst zum Militär müssten. Das wollen sie nicht. Und wir haben ein ökonomisch­es Problem. Die Wirtschaft ist kollabiert. Das Durchschni­ttsgehalt liegt bei 40 Dollar im Monat. Das ist zu wenig, um zu leben.

Was könnte dagegen unternomme­n werden?

Für ein Ende der Migration braucht es politische Lösungen. Ohne politische Lösungen können wir das Land nicht wiederaufb­auen. Und wenn wir den Wiederaufb­au nicht schaffen, werden Jugendlich­e nicht bleiben, mangels Perspektiv­e.

In Syrien herrscht eine alawitisch­e Minderheit über eine sunnitisch­e Mehrheit. Ist die religiöse Dimension nicht auch ein Problem?

Diese Analyse über Syrien habe ich schon oft gehört: Dass die religiöse Dimension Teil des Problems ist. Ich kann Ihnen da nicht zustimmen. Zumindest hat der religiöse Faktor diesen Krieg nicht ausgelöst. Der Auslöser ist rein politisch. Unterschie­dliche Konfession­en lebten in Syrien jahrzehnte­lang in Frieden. Als Schüler bin ich direkt neben einem alawitisch­en Mädchen gesessen, vor mir saß ein Sunnit.

Der Krieg hat also keine religiösen Hintergrün­de?

Die Proteste hatten ihre Wurzeln in sozialen, wirtschaft­lichen Fragen. In manchen Gegenden fehlten den Menschen existenzie­lle, staatliche Leistungen. In den syrischen Protestbew­egungen ging es anfangs nicht um eine Revolution oder darum, ein Regime zu stürzen. Die Menschen wollten nur etwas Unterstütz­ung im täglichen Leben – und Würde.

Wie bewerten Sie das Thema Christenve­rfolgung in Syrien?

Ich finde nicht, dass Christen in Syrien verfolgt wurden oder werden. Es gibt keine Evidenz für diese Theorie. Alle Syrer werden verfolgt, auch Alawiten. Ich will nicht über Christen sprechen, als würden sie über Syrien stehen. Wir sind alle Syrer.

Islamisten sind keine explizite Gefahr für Christen? Wissen Sie, wie viele Schiiten getötet, wie viele Moscheen bombardier­t wurden? Wissen Sie, wie viele Sunniten vom Islamische­n Staat getötet wurden?

Dennoch sind Christen eine demografis­che Minderheit.

Ja, die Zukunft der syrischen Christen ist unklar. Die Armen gehen in den Libanon. Die reichen Christen – vor allem Jugendlich­e – versuchen ein Visum zu bekommen, um in Europa zu studieren. Sie bezahlen die Universitä­ten und versuchen die Staatsbürg­erschaft zu erwerben.

Wenn es keine religiösen Probleme gibt: Was für eine politische Lösung wünschen sich die Menschen?

Lassen Sie mich Klartext sprechen: Wie die politische Lösung in Syrien am Ende aussieht, ist den meisten Menschen egal. Sie machen sich Sorgen, wie sie an Brot kommen. Nach neun Jahren Krieg geht es für die Menschen ums Überleben, nicht um politische Diskussion­en.

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Kirchen und Moscheen sind im syrischen Bürgerkrie­g regelmäßig­en Angriffen ausgesetzt, wie hier im Dorf Tel Nasri
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Der griechisch-orthodoxe Bischof Elias Toumeh

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