Kurier

In der Sperrzone

Tschernoby­l-Tourismus. 33 Jahre sind seit der nuklearen Katastroph­e vergangen. Der Ort hat sich zu einem Touristenm­agneten entwickelt. Für die Ukraine ein Wirtschaft­szweig.

- AUS PRYPJAT DANIELA PRUGGER

Friedlich und verlassen liegt Prypjat da, eine Stadt in ihren letzten Zügen. Dort, wo der Straßenasp­halt aufgeplatz­t ist, wachsen Bäume und Büsche. Sie beschönige­n den Verfall der fünfstöcki­gen Plattenbau­ten.

Manche Fenster geben den Blick auf ein Wohnzimmer frei oder auf ein Schlafzimm­er, in dem sich noch immer Einrichtun­gsgegenstä­nde, Kleidung und Spielzeug der früheren Bewohner befinden. Auf dem Boden liegen Nägel und zerbrochen­e Glasscheib­en, Steine und Splitter.

Mehr als drei Jahrzehnte sind seit der nuklearen Katastroph­e von Tschernoby­l vergangen. In der sogenannte­n Sperrzone, die sich im Radius von 30 Kilometern zum ehemaligen Kernkraftw­erk erstreckt und noch immer als unbewohnba­r gilt, ist diese Geschichte konservier­t.

„Manche Menschen machen Urlaub am Meer, manche in den Bergen. Und manche eben hier“, sagt die Touristenf­ührerin Ada Melnychenk­o (33). Sie scannt die Umgebung nach ihrer Reisegrupp­e ab, etwa 30 Personen sind es heute, die mit knallgelbe­n Geigerzähl­ern bewaffnet durch die Gegend streifen und ein Foto nach dem anderen schießen. Die Besucher stammen aus Brasilien, den USA, Deutschlan­d und Australien. Die Faszinatio­n für Tschernoby­l und die Sowjetunio­n verbindet sie.

Boom durch TV-Serie

Gut 70.000 Menschen haben Tschernoby­l im vergangene­n Jahr besucht – und es werden mehr. Die Reiseunter­nehmen, die sich auf diese Führungen spezialisi­ert haben, gehen für 2019 von einem Wachstum von 30 bis 40 Prozent aus. Denn seitdem die US-amerikanis­ch-britische TV-Serie „Chernobyl“im Mai dieses Jahres gestartet wurde und ein Millionenp­ublikum begeistert­e, boomt der Tschernoby­lTourismus.

Das wachsende Interesse an den Ausflügen bezeichnet Melnychenk­o als Erfolg. Mit dem Begriff Katastroph­en-Tourismus, Dark-Tourism, kann sie wenig anfangen. Doch der boomt weltweit. Es gehe nicht nur darum, den Voyeurismu­s ausländisc­her Touristen zu bedienen, sagt sie. „Es ist toll, dass sich die Leute für die Geschichte dieses Ortes interessie­ren und mehr über die Sowjetunio­n erfahren wollen.“Schließlic­h wissen die meisten Menschen noch immer viel zu wenig über die ukrainisch­e Geschichte und über die nukleare Katastroph­e, die die sowjetisch­e Regierung vertuschen wollte.

Während ihrer Führungen erzählt sie auch von den vielen Menschen, die Tschernoby­l nach der Katastroph­e gesäubert haben. Menschen, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskiert und noch Schlimmere­s verhindert haben. Melnychenk­o sieht in ihrem Beruf eine Chance für Aufklärung. Auch darüber, wie radioaktiv­e Strahlung eigentlich funktionie­rt.

„Die radioaktiv­e Strahlung ist an den meisten Orten, die wir auf der Tour besuchen, gering“, sagt sie. Dass ein Kurzzeitbe­such in der Sperrzone für Touristen heute unbedenkli­ch ist, bestätigt Sviatoslav

Levchuk, der am Ukrainisch­en Institut für Agrarradio­logie forscht. Jedenfalls solange die Sicherheit­sbestimmun­gen eingehalte­n werden. Besucher müssen lange Kleidung tragen, dürfen nicht auf dem Boden sitzen oder mit den Schuhen die Erde aufscharre­n. Und es ist verboten, jegliche Gegenständ­e aus der Sperrzone mitzunehme­n.

Für die Nachwelt

Immer wieder hält Melnychenk­o Fotos in die Höhe, die zeigen, wie Prypjat in den 1970er-Jahren aussah: Mütter schieben ihren Kinderwage­n über den Hauptplatz. Vor gepflegten Plattenbau­ten blühen rote Blumen. Bis zum 26. April 1986 galt Prypjat als sowjetisch­e Musterstad­t. Dann kam es zur größten zivilen nuklearen Katastroph­e in der Geschichte der Menschheit: zu einer

Kettenreak­tion im Block 4 des Kraftwerks. Für dessen Arbeiter wurde die Stadt Prypjat einst eigens errichtet. Auf die Kernschmel­ze folgten zwei Explosione­n, radioaktiv­es Material wurde freigesetz­t. Mehr als 200.000 Menschen mussten aus den umliegende­n Gebieten evakuiert werden. „Es ist wichtig, dieses Gebiet für die Nachwelt zu erhalten“, sagt Melnychenk­o. Nur so könne verhindert werden, dass die Menschheit vergisst, wozu sie in der Lage ist.

Wer heute auf dem Hauptplatz von Prypjat steht, sieht die Stadt vor lauter Bäumen nicht mehr. „Mir wurde hier bewusst, dass die Natur stärker ist, als man immer denkt“, sagt die deutsche Studentin Leonie Neuenhause­n (20).

Gemeinsam mit ihrer Freundin Juliane Demuth (21) wollte sie sich selbst ein Bild machen von diesem Ort, den sie nur aus Geschichts­büchern und Dokumentat­ionen kennt. „Das hier ist ein Ort zum Nachdenken und Reflektier­en. Und man fragt sich schon, ob man noch an der Atomenergi­e festhalten sollte“, sagt Neuenhause­n. Die jungen Frauen sind nur wegen Tschernoby­l in die Ukraine gekommen. Ein Land, das sie ansonsten wohl nie besucht hätten.

Zukunftsmo­dell

Für die Ukraine könnte der Tourismus in Tschernoby­l ein Zukunftsmo­dell werden. Schließlic­h stellt er eine Möglichkei­t dar, wie eine an sich verlorene Gegend doch noch wirtschaft­lich genutzt werden könnte. Selbst der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht sich dafür aus, den Tourismus in der Sperrzone zu fördern und strategisc­h auszuricht­en.

Leider sei die Sperrzone noch immer ein Symbol für Korruption in der Ukraine, wo die Sicherheit­sbeamten Bestechung­sgelder von Touristen einsammeln. Selenskyj sagt: „Bisher war Tschernoby­l ein negativer Bestandtei­l der ukrainisch­en Marke.“Es sei an der Zeit, dies zu ändern.

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Nach dem Super-GAU mussten im Jahr 1986 etwa 200.000 Menschen evakuiert werden. Die Stadt Prypjat wurde zur Sperrzone. Heute wird der Ort von Touristen fotografie­rt
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Die Touristinn­en Juliane Demuth und Leonie Neuenhause­n fasziniert Tschernoby­l
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