Kurier

Die Zukunft der Mobilität im Rückspiege­l

Kulturgesc­hichte. Inmitten von Klima-Debatten widmet sich das Londoner Victoria & Albert Museum dem Auto. Dabei wird klar, dass die heute so dominante Rolle des Gefährts nicht alternativ­enlos war.

- AUS LONDON MICHAEL HUBER

„Jeden Tag liefert die Humble Oil Company genug Energie, um sieben Millionen Tonnen Gletscher zu schmelzen!“hieß es in einer doppelseit­igen Anzeige, die 1962 im Magazin Life mit dem Bild eines Eismassivs erschien.

Der später im Exxon-Mobil-Konzern aufgegange­ne Öllieferan­t konnte sich damals noch ungeniert mit einer solchen Leistung brüsten: Die Ausschlach­tung fossiler Ressourcen bedeutete Fortschrit­t. Sichtbar, greifbar und fahrbar wurde der Eroberungs­geist in den Straßenkre­uzern, den Chevys und Cadillacs, die in den Fabriken von Detroit in ständig neuen Varianten vom Band rollten.

Dass sich eine derartig triumphale Erzählung der Automobilg­eschichte heute nicht mehr ausgeht, dürfte auch hartnäckig­en Benzinbrüd­ern und Klimawande­lSkeptiker­n einleuchte­n.

Das Londoner Victoria & Albert Museum, eines der bedeutends­ten Kunstgewer­beMuseen mit einer Reputation für zeitgeisti­ge und publikumst­rächtige Ausstellun­gen, setzte trotzdem gerade jetzt eine Schau zum Thema des Autos auf sein Programm (bis

19. 4. 2020). Darin geht es weniger um Innovation­en in Design und Technik als um jene Kräfte, die das Auto in Gesellscha­ft, Wirtschaft, Politik und Kultur entkoppelt­e.

Kultur, nicht Kult

Tatsächlic­h macht die Schau – und der lesenswert­e Katalog – mit einer verhältnis­mäßig geringen Zahl von Exponaten deutlich, dass es seit der Patentieru­ng des Benz Patent-Motorwagen­s im Jahr 1885 mehrere Abzweigung­en gab, die zu gänzlich anderen Formen von Mobilität hätten führen können.

So galt der Elektromot­or, nicht der Verbrennun­gsmotor um 1900 als die Technologi­e der Zukunft. Die „sauberen und verlässlic­hen“elektrisch­en Gefährte wurden auch gezielt an Frauen vermarktet.

Zu einem Umdenken kam es erst, als Hersteller den Konnex zwischen Automobili­tät und Entdeckerg­eist zu betonen begannen: Ein jederzeit auftankbar­er Wagen konnte weitere Strecken bewältigen und wurde zum Werkzeug für (männliche) Abenteurer, die sich einen Weg durch unwegsame Ländereien bahnten. In den damaligen Kolonien wurde das Auto auch rasch zu einem Herrschaft­swerkzeug. „Der Triumph des Verbrennun­gsmotors ist ein Beispiel dafür, wie kulturelle Einstellun­gen technologi­sche Umwälzunge­n bedingen können“, heißt es dazu im Katalog.

Dass sich das Auto so gut eignete, um den Kreislauf des Eroberns, Erschließe­ns, Produziere­ns und Konsumiere­ns anzukurbel­n, lag nicht zuletzt auch an Zukunftsvi­sionen, die am Feld der populären Kultur formuliert wurden.

Die Londoner Schau zeigt, wie sich Mobilitäts­fantasien über Epochen hinweg glichen: Die Idee extrem verdichtet­er Städte mit mehrgescho­ßigen Straßen findet sich

in fantastisc­hen Illustrati­onen des Jahres 1914 ebenso wie im Film „Blade Runner 2049“(2017).

Fiction & Science

Autonom in Tunneln düsende Autos, wie sie Tesla-Vordenker Elon Musk plant, hatte General Motors bereits in den 1950er Jahren auf der Agenda. Fliegende Autos sieht man in einem Magazin aus dem Jahr 1892 ebenso wie in den „Zurück in die Zukunft“-Filmen und anhand eines AudiProtot­yps am Ende der Schau.

Dass die auch durch den Rennsport propagiert­e Fortschrit­tsund Geschwindi­gkeitsideo­logie in alle Lebensbere­iche vordrang, lag aber nicht zuletzt an Henry Ford und der von ihm perfektion­ierten Fließband-Produktion: Sie stieß einen EffizienzK­ult an, den das Museum bis zu den arbeitstei­lig produziert­en Hits des nicht zufällig in Detroit ansässigen Plattenlab­els Motown weiterverf­olgt.

Auch kommunisti­sche Regime adaptierte­n das Auto als Symbol der Produktivi­tät, erklärt Kurator Brendan Cormier. Sie investiert­en aber wenig in Infrastruk­tur: Individual­tourismus im Auto war bei ihnen nicht vorgesehen.

Anders im Westen: Die vom Reifenkonz­ern Michelin initiierte­n Reiseführe­r (samt Restaurant-Bewertunge­n) dienten ebenso der Förderung des Autotouris­mus wie der „Kraft durch Freude“-Wagen des NS-Regimes, später VW Käfer.

Um den Konsum anzukurbel­n, schloss die Autoindust­rie Mode und Modernität kurz: Als General MotorsChef Alfred Sloan 1921 begann, jährlich wechselnde Modelle auf den Markt zu bringen, kam die Inspiratio­n dazu von den saisonalen Pariser Couture-Schauen.

Rasche Sortiments­wechsel wurden in der Folge in vielen Branchen zur Selbstvers­tändlichke­it. Die Schnittigk­eit von Autos sickerte wiederum ins Produktdes­ign – in der Schau steht dafür exemplaris­ch eine aerodynami­sch anmutende Wurstschne­idemaschin­e aus dem Jahr 1944.

Autos wiederum saugten Einflüsse aus dem Flugzeugba­u und der Raumfahrt auf. Die Frage, was die Anpassung ans Auto im Städtebau bewirkte, lässt die Schau aus – sie hätte wohl den Rahmen gesprengt.

Auch auf eine andere Art reicht das Auto in die Kultursphä­re hinein: Noch 2018 ließ sich das Victoria & Albert Museum seine Jahresauss­tellung vom Volkswagen-Konzern sponsern. Nun ist der Zulieferer Bosch an Bord. Der Ölkonzern BP – einst beliebter Unterstütz­er britischer

Museen – kommt nur kurz am Ende der Schau vor: Hinter der Präsentati­on eines schnittige­n Autos der Zukunft läuft ein Video der Ölkatastro­phe im Golf von Mexiko 2010.

Nein: Naive Auto-Propaganda kann man der Ausstellun­g nicht vorwerfen. Sie demonstrie­rt lediglich, wo wir stehen. Und dass sich Kultur – und mit ihr die Mobilität – stets verändern und neu erfinden kann.

Der KURIER reiste auf Einladung des Victoria & Albert Museums nach London.

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Mit dem „Tatra 77“hielt stromlinie­nförmiges Design 1934 Einzug in den Autobau
 ??  ?? General Motors Firebird I (XP-21), 1953: Mittelfris­tig hätte das Düsen-Auto autonom fahren sollen
General Motors Firebird I (XP-21), 1953: Mittelfris­tig hätte das Düsen-Auto autonom fahren sollen
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Dieser Prototyp von Italdesign, Airbus und Audi (2018) soll wahlweise fliegen oder fahren

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